„Nein danke, es geht mir gut“,antwortete dieser ganz verlegen. Dazu hob er entschuldigend die Hand. Umgehend sprang er von der Bank auf und grüßte seinen Freund herzlich, als sei nichts besonders gewesen. Jedoch spürte der zerstreute Mann mit einem Schlag, dass ihn die Begegnung mit der Dame im Zugabteil doch mehr umtrieb, als er wahr haben wollte. Eilig raffte Herr K. alle seine Sachen zusammen – doch auf das fremde Notizbuch gab er dabei ganz besonders Acht!
Der guter alter Freund!
Auch nach all den Jahren hatte er sich nicht geändert – und Herr K. wahrscheinlich genauso wenig! Damals wie heute, war es dem schüchternen Autor unmöglich etwas lange genug vor ihm zu verheimlichen – er konnte sich noch so bemühen, aber wenn sein Freund T. einen Verdacht hatte, presste er geschickt das Geheimnis aus Herrn K. heraus. Komischerweise ging es ihm dann nach der Beichte wesentlich besser! Also berichtete der Autor knapp, während beide die Straße entlangliefen, von der überraschenden Begegnung mit der attraktiven Dame auf der Bahnfahrt hierher. Zudem fügte er den Schilderung seinen dringenden Wunsch bei, das Tagebuch der rechtmäßigen Besitzerin zurück geben zu wollen. Denn schließlich fühlte er sich irgendwie an dem Malheur mitschuldig – wären beide nicht so vertieft in dem Gespräch gewesen, hätte sie die Station rechtzeitig bemerkt!
„An welcher Station ist sie eingestiegen“, wollte sein neugieriger Freund wissen.
Als dieser ihm weder den Namen der Stationen des Zu - und Ausstiegs nennen konnte, noch ihren genauen Namen, lachte T. langanhaltend und laut. Seine ausgelassene Fröhlichkeit unterhielt dabei die ganze Umgebung. Er nickte immer wieder munter mit dem Kopf dazu und feixte:
„So kenne ich Dich...Du bist immer noch derselbe Draufgänger, wie früher“!
Herr K. wusste mit Gewissheit, diese Bemerkung war keineswegs als Kompliment gemeint, aber dieser besonderen Freundschaft tat es deshalb keinen Abbruch. Schon früher war der Freund mit seiner Art wesentlich erfolgreicher – neidisch war Herr K. deswegen nicht.
Jedoch mit seinem Vorschlag, das Buch im Fundbüro abzugeben und zu hoffen, dass die Besitzerin es irgendwann abholt, wollte der schüchterne Finder sich keinesfalls zufrieden geben. Doch er signalisierte vage seine Zustimmung um endlich seine Ruhe zu bekommen, vor den bohrenden Fragen seines heiteren Bekannten.
Und irgendwann, zwischen Bahnhofshalle und der Haustür seines Freundes, verlor sich dann auch das ungewöhnliche Thema im Getümmel des Straßenverkehrs. T. kannte das Wesen seines stillen Freundes nur zu gut. Er wusste, dass es ihn innerlich sehr beschäftigte und eine einfache Lösung war für diesen komplizierten Fall, in wenigen Minuten nicht zu erwarten. Und daher ließ der Gastgeber das Geschehene, für die Dauer des Aufenthalts, erst mal auf sich beruhen – beide Herren hatten schließlich Besseres zu tun! Sobald der zerstreute Autor wieder in seinen eigenen vier Wänden weilen würde, könnte er sich über das Fahrgastcenter der Bahn möglichst genaue Erkundigungen einzuholen. Oder falls es nichts nützt, eine besondere Suchanzeige in der Zeitung schalten!
Der Aufenthalt war trotz einiger Wehmut ein voller Erfolg. Herr K. hatte jede Minute mit seinem besten Freund ausgiebig genossen. Seine erfrischenden, ehrlichen Worte und zahlreichen Anregungen, sowie die aufregenden Erlebnisse aus der bewegten Vergangenheit waren wirklich ein ganzes Buch wert – und K. fühlte sich bestens aufgehoben und pudelwohl. Trotz der Rücksicht von T. haderte sein Gast zeitweise mit der zurückliegenden Begegnung auf der Bahnfahrt heftig. Dann verbarg er geschickt seine unangenehme Pein, vor dem herzlichen Gastgeber.
Aber insgeheim freute er sich auch wieder auf die bevorstehende Heimreise. Diese Frau hatte es ihm wirklich angetan und jede Minute untätig zu verbringen, ohne ihre genau Identität zu kennen, versetzte den ruhigen Autor immer mehr in Unruhe!
Als er nach einer Woche endlich wieder zu Hause war, macht er sich voller Zuversicht ans ersehnte Werk. Doch nach wenigen Wochen kam die lähmende Ernüchterung, denn sämtliche Vorhaben führten keineswegs zu dem gewünschten Ergebnis – noch nicht einmal ansatzweise gab es einen Fortschritt.
Nach zwei zähen Monaten, ohne nennenswerte Hinweise, nahm er sich die Einträge der fremden Frau genauer vor und forschte noch gewissenhafter als bisher in ihren Aufzeichnungen weiter.
Je tiefer dieser Suchende in die zahlreichen Lebenserinnerungen der fremden Dame eintauchte, desto mehr wurde er von ihnen magisch erfasst und in einen wilden Strudel hineingezogen. Zeitweise hatte sich der Autor in die Lektüre so verbissen, dass aller anderen Projekte in dieser Zeit vollkommen still standen.
Aber alles bisher Gewünschte und eine unbestimmte Hoffnung in die nahe Zukunft nützten ihm wenig. Es musste langsam eine wichtige Entscheidung gefällt werden. Einige Tage trug sich sein Kopf mit einer heiklen Idee. Dennoch, allen Bedenken zum Trotz: An einem trüben Vormittag im September fasste er den unumkehrbaren Entschluss, diese Erlebnisse in einem Buch zu verfassen. Dabei wollte der Autor gewissenhaft, wie ein Detektiv, aus dem Geschriebenen seine eigenen Schlüsse ziehen und hoffte so auf einen Geistesblitz, der ihm am Ende die wahre Identität enthüllen würde.
Als der naive Schreiberling mit der Arbeit begann, eröffnete sich erneut eine sehr schöne und lebendige Welt. Fast so wunderbar und einzigartig, wie die Stunden mit der Unbekannten im Zugabteil. Mit dieser Frau – ihrem Leben und was sie dafür opferte“!
Ein Bild aus glücklichen Tagen?
„Was hatte ich mir da nur angetan“, grummelte Herr K. mit schwerem Kopf vor sich hin.
Er hatte sich auf der Couch eine bequeme Ecke vorbereitet und ließ all seinen Zweifeln und Gedanken hierzu freien Raum. Seine Augen schauten müde aus einem fahlen, fast geisterhaften Gesicht. Die feurige Energie der vergangenen Tage war einer alles lähmenden Nüchternheit gewichen. Neben ihm lag das Konvolut an Blättern und Notizen. In seiner puren Verzweiflung nahm der Autor das wundervolle Meisterwerk, dieser geheimnisvollen verschwiegenen Fremden, immer wieder in seine Händen. Aus den lebhaften Schilderungen wollte er ihre Geschichte schriftlich niederlegen! Obwohl er bisher keine Möglichkeit gefunden hatte, wie er am elegantesten anfangen sollte. Seite für Seite fuhr sein Daumen fast beschwörend das Papier ab, in der stillen Hoffnung auf einer zündenden Eingebung.
„Was wusste ich schon von ihrem Leben, ihrem Leiden und den unterschiedlichen Empfindungen, denen diese Frau in ihrem Leben ausgesetzt war“?
Beim ziellosen Durchblättern der vielen Seiten, den gefühlvollen Worten auf jedem Blatt, das der Mann bisher gelesen hatte, trieb dieser von einem aufregenden, ja ergreifenden Erlebnis zum nächsten hinüber. Je länger er sich durch die Seiten und ihren Inhalt kämpfte, desto hoffnungsloser wurde er zum Ende hin, dieser Person auch nur mit einem seiner Wort gerecht werden zu können.
Als wollte er seine erdrückenden Selbstzweifel vertreiben, hoben die Hände den ganzen Konvolut an Blättern fast beschwörend in die Höhe.
„ Ihr Worte, sprecht zu mir und gebt euer Geheimnis endlich Preis“, rief er voller Verzweiflung aus. Bei diesem ungeschickten Akt einer völligen Hilflosigkeit, fiel plötzlich ein dickeres Stück Papier heraus und landete direkt auf dem Boden, neben seinen Füßen.
Das kleinere Blatt hatte zwischen zwei Seiten, ganz eng in dem Innersten des Buchrückens, festgesteckt.
Herr K. nahm es auf und drehte es langsam und vorsichtig um. Es war aber kein Notizblatt, sondern es handelte sich um ein Foto aus einer Sofortbildkamera. Auf dieser leicht verblassten Oberfläche posierte ein Paar in ausgelassener Stimmung. Im Hintergrund lag das blaue Meer, weißer Sandstrand und einige Palmen bogen ihre grünen Kronen in den wolkenlosen Himmel. Am Bildrand schaute der Teil einer Veranda, mit Schaukel, oder einer stabileren Hängematte heraus.
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