Das Festival ist noch voll im Gang, gerade versucht ein Anheizer die Stimmung nochmal explizit hochzupushen. Diese Jungs scheinen immer extrem gut drauf zu sein, aber hinter der Bühne sieht man auch oft ein anderes Bild. Auf dem Weg zu unserem Bus kommen wir an einer Gruppe Jugendlicher vorbei, die sich etwas abseits im Kreis versammelt hat. Es sind neun, sechs Jungen und drei Mädchen, allesamt noch nicht oder gerade erst volljährig, würde ich schätzen. Kommen bestimmt aus der Gegend hier und wollten sich das Event der Älteren mal anschauen. Ein Mädchen scheint mich erkannt zu haben, zeigt mit dem Finger auf mich und macht sich direkt auf den Weg zu uns. Mit Sprung im Schritt und einem breiten Grinsen im Gesicht sagt sie, “Hi, hi Johnny! Ich bin echt ein großer Fan von dir, würdest du mein Cappy signieren? Hier, ich hab auch einen Stift.” Das Mädchen ist auf jeden Fall noch keine achtzehn, eher vierzehn, mit großen Augen, die mich hoffnungsvoll ansehen. “Hi”, ich warte. “Oh, ich heiße Christine.”, sagt sie freudig. “Hi, Christine. Das mache ich doch liebend gerne. Soll ich etwas Bestimmtes schreiben? Bist du aus der Gegend hier?” Sie schüttelt den Kopf, “Nein, schreib einfach was Schönes. Ja, bin ich, meine Freundinnen und die Jungs sind alle wegen mir hier, weil ich dich unbedingt live sehen wollte. Dein neuer Song ist mega cool!” Das nenne ich einen wahren Fan. Ich schreibe Für meinen jüngsten und mutigsten Fan Christine - dein Johnny. Sie würde mir am liebsten um den Hals springen, hält sich jedoch zurück und hüpft auf die Cappy lächelnd nur kurz auf der Stelle. Dann dreht sie sich um, schreit mir noch ein Danke hinterher und berichtet ihren Freundinnen und Freunden, was sie gerade erlebt hat.
Wir gehen weiter, der Klang der Musik aus den Lautsprechern ist selbst hier noch gut zu hören. Von Vogelgezwitscher oder anderen Naturgeräuschen ist nichts übrig. Trotz zahlreicher Mülltonnen sieht der Boden stark verdreckt aus. Abfälle zieren hier und dort die Wege und das Gestrüpp, sogar in einer der großen Fichten hängt Müll. Wie der da wohl hoch gekommen ist? Die Menschen und ihr Planet führen manchmal eine sehr merkwürdige Beziehung. In dem kleinen Waldstück westlich von unserer Position haben sich zwei lachende Männer versteckt. Sie scheinen bester Laune und rufen uns zu, “Hey Jungs, Bock auf ne kleine weiße Prise?” Die haben uns scheinbar nicht erkannt, so berühmt sind wir dann doch noch nicht. Widerliche Typen, wie kann man nur andere dazu anstiften, Drogen zu nehmen. “Ihr seid abartig und solltet euch was schämen, ihr Idioten!”, platzt es mir raus. Steven hält mich zurück, “Johnny, bleib ruhig, lass denen doch ihren Spaß.” Wegsperren sollte man diese Leute, ruinieren nicht nur ihr eigenes, sondern auch die Leben anderer und ihrer Familien. “Man sollte diesen Deppen einfach mal eine scheuern, würde bestimmt helfen.” Ich lasse mich von Steven mitziehen und nach und nach verschwinden die beiden Gestalten aus meinem Blickfeld. “Jetzt fahren wir erst einmal zurück ins Hotel, da vorne ist unser Bus. Hast du die Schlüssel?”, fragt Manuel. “Ja”, antwortet Steven, “Ich fahr uns schnell hin.” Was die beiden sonst noch bequatschen, bekomme ich nicht mit. Meine Gedanken sind bei den zwei Vollidioten hängen geblieben, meine Miene erstarrt. Ohne Worte nehme ich meinen Platz hinten im Bus ein, balle die Fäuste und schließe meine Augen.
Kapitel 2


Einige Tage später in einem Wohnviertel mit Reihenhäusern
Die grünen Zahlen des Weckers erhellen den sonst dunklen Raum. Geklingelt hat er nicht, es ist 4:50 Uhr. Mein Körper zittert, ich wische mir den Angstschweiß von der Stirn. Alles nur wegen diesem Traum. Immer und immer wieder kehrt er zurück und immer und immer wieder reagiert mein Körper auf ähnliche Weise. Im Traum ist es Nacht, die Sterne am Himmel sind deutlich zu erkennen, der Mond ist halb gefüllt und erhellt die Landschaft. Mein Vater steht aufrecht vor mir und zeigt in Richtung eines Hügels, gesprochen wird nicht, alles geschieht mit Zeichensprache. Das Gewehr in seiner Hand verheißt nichts Gutes. Langsam pirschen wir uns vor, nur wir beide sind weit und breit zu sehen. Welchen Auftrag wir haben, weiß ich nicht. Nach einem Drittel des Anstiegs hält mein Vater inne und lauscht. Außer dem Zirpen der zahlreichen Grillen ist nichts zu hören. Wir gehen weiter, die Beine allzeit gebeugt, um das Gewicht besser abzufedern. Ich habe meine Augen meist nach Hinten und zur rechten Seite gerichtet, mein Vater übernimmt die anderen Gebiete. Nach zwei Dritteln des Weges hält er erneut inne. Wieder ist kein unnatürliches Geräusch zu vernehmen. Er deutet mir an, dass wir uns das letzte Stück robbend fortbewegen sollten, um noch unauffälliger zu sein. Wir lassen uns zu Boden und kriechen Meter für Meter näher an die Hügelkuppe. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Auf der rechten Seite, etwas abhängig, ist ein Waldstück zu erkennen, zahlreiche Tannen ragen meterhoch in die Luft und werfen ihre Schatten in unsere Richtung. Sie wirken wie bedrohliche Riesen, die kommen, um uns zu holen und in absolute Schwärze zu verbannen. Hinter uns liegt das Tal, aus dem wir emporgestiegen sind. Ein kleines Dorf ist in der Ferne erkennbar, zwei, drei Laternen erhellen es. Ansonsten relativ kurz geschnittene Wiesen und abgeerntete Felder wohin man blickt, kaum Deckung. Wir haben Glück gehabt, dass wir bislang nicht aufgefallen sind. Ich blicke zu meinem Vater, er schaut konzentriert nach links. In dieser Richtung scheint es nach einem kleinen Tal noch einmal gute 20m höher zu gehen. Auch dort ragen Bäume empor, mehr von diesen furchteinflößenden Tannen. Bewegungen sind nicht auszumachen. Vor uns erstreckt sich zwischen all den Wäldern ein Pfad von links nach rechts, gesäumt von einem kleinen Holzzaun auf beiden Seiten. Eine Sitzbank erlaubt den Blick in unsere Richtung, sie ist leer.
In der Ferne ragt ein unidentifizierbares Bauwerk ein Stück in die Luft, könnte ein alte Ruine sein oder ein alleinstehendes Haus. Auch meinem Vater ist es aufgefallen. Das werden wir uns genauer ansehen, gibt er mir zu verstehen. Sein Plan ist es, die Dunkelheit der Tannen zu unserer Rechten zu nutzen, wir robben also noch ein kleines Stück weiter in diese Richtung und verschwinden im Schwarz der Schatten. Nachdem wir uns aufgerichtet haben und einige Schritte gegangen sind, werden die Umrisse des Objektes klarer. Es scheint sich um eine kleine Scheune mit einem Speichertank daneben zu handeln. Das Scheunendach verläuft spitz zu und der Tank ragt daneben ein paar Meter höher in den Nachthimmel. Licht brennt keines. Wir setzen unseren Weg fort, müssen gleich aber wieder die Schatten verlassen. Mein Vater stoppt und hält einmal mehr den Zeigefinger vor den Mund. Er lauscht. Ein leichtes Klappern ist zu hören oder ist es mehr ein Quietschen? Dann knackt es plötzlich hinter uns im Wald. Blitzartig drehen wir uns um und werfen uns zu Boden. Der Ast, so meine Vermutung, muss ein gutes Stück im Wald zu Bruch gegangen sein. Es ist wieder ruhig. Dann wieder das Quietschen aus der anderen Richtung, kaum wahrnehmbar. Zeit, sich zu entscheiden, wir können hier nicht ewig verharren. Mein Vater deutet auf die Scheune, wir robben los. Das Quietschen verstummt immer wieder, kommt dann zurück und wird manchmal von einem Klappern gefolgt. Es handelt sich offenbar um eine schwingende Tür oder ein Fenster, das im leichten Wind hin und her schwingt und dann gegen den eigenen Rahmen stößt, ohne zu schließen. An sich ein gutes Zeichen, denn es deutet darauf hin, dass die Scheune verlassen ist. Ich drehe mich um, war das da ein Schatten, der sich bewegt hat oder spielen mir meine Augen einen Streich? Verdammt schwer, irgendetwas in der Dunkelheit der Bäume zu erkennen. Es sind vielleicht noch 50m bis zur Scheune, als ein lauter Knall ertönt. Keine Armlänge neben mir trifft etwas den Boden, das war knapp. Es vergehen keine zwei Sekunden, dann knallt es wieder. Jemand aus dem Wald schießt auf uns. Agil springt mein Vater auf und läuft in möglichst geduckter Haltung Zickzacklinien. Ich tue es ihm gleich und versuche, schnell voran zu kommen. Normalerweise kann man 50m in ein paar Sekunden zurücklegen, doch mir kommt es vor, als würden wir minutenlang versuchen, den Schüssen auszuweichen. Wieder ein Knall, das Holz der Scheune splittert. Mein Vater ist knapp vor mir, ich blicke hinter uns und sehe gleich zwei Funken aufblitzen, die Schüsse werden gefolgt von einem Aufstöhnen. Kurz nur. Dann sinkt mein Vater vor mir zu Boden und ich reiße die Augen auf und erwache.
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