Damals gab es noch keine Schienenstränge in Nordgeorgia und auch anderswo nur sehr wenige. Aber in den Jahren vor Geralds Heirat wuchs die winzige Niederlassung fünfundzwanzig Meilen von Tara allmählich zu einem Dorf heran, und die Schienen rückten langsam nach Norden vor. Die Zeit des Eisenbahnbaues begann. Von der alten Stadt Augusta ging westwärts durch den Staat eine zweite Strecke, die die Verbindung mit der neuen Linie nach Tennessee herstellen sollte. Von der alten Stadt Savannah aus wurde eine dritte Linie zuerst bis Macon im Herzen Georgias und dann nordwärts durch Geralds eigene Provinz bis Atlanta geführt, wo sie mit den andren beiden Strecken zusammentraf und dadurch dem Hafen Savannah eine Verbindung mit dem Westen verschaffte. Schließlich wurde von demselben Knotenpunkt Atlanta aus noch eine vierte Strecke südwärts nach Montgomeryund Mobile gebaut.
Mit den Eisenbahnen geboren, wuchs Atlanta auch mit ihnen. Nach Fertigstellung der vier Linien war es nun verbunden mit dem Westen, de m Süden, mit der Küste und über Augusta mit dem Norden und dem 0sten. Es war der Kreuzungspunkt für Reisen nach allen vier Himmelsrichtungen geworden, mit einem Satz stand das kleine Dorf mitten im großen Leben.
In einem Zeitraum, der wenig länger war als Scarletts siebzehn Jahre, war Atlanta aus einem einzigen in den Erdboden geschlagenen Pfahl zu einer blühenden Kleinstadt von zehntausend Einwohnern aufgewachsen, auf die der ganze Staat sein Augenmerk richtete. Die älteren, stilleren Städte blickten auf den geschäftigen Neuling mit den Gefühlen einer Henne, die ein Entlein ausgebrütet hat. Die Einwohner der jungen Stadt waren rastlose, unternehmungslustige, energische Leute, die ihre Ellbogen gebrauchten. Sie kamen von allen Seiten mit Begeisterung herbei. Sie bauten ihre Lagerhäuser an den fünf morastigen Straßen, die sich in der Nähe des Bahnhofs kreuzten. Ihre Villen aber bauten sie in der Whitehallund Washingtonstraße und an dem hohen Hügelrücken, wo unzählige Indianergenerationen mit ihren Mokassins einen Weg getreten hatten, der sich Pfirsichpfad nannte. Sie waren stolz auf die Stadt, stolz auf ihr rasches Wachstum und stolz auf sich selbst. Atlanta kümmerte sich nicht um den Neid der anderen Städte. Aus denselben Gründen, die es in Savannah, Augusta und Macon unbeliebt machten, hatte Scarlett von jeher Atlanta gern gehabt. Es war wie sie selbst, ein Gemisch aus dem alten und dem neuen Georgia, darin sich das alte oft als das weniger Gute erwies. Dazu kam die aufregend persönliche Note, die für sie die Stadt haben mußte, die in demselben Jahre wie sie getauft worden war.
Nachdem es die Nacht zuvor geregnet und gestürmt hatte, war, als Scarlett in Atlanta ankam, die heiße Sonne schon emsig an der Arbeit, die Straßen, die sich wie Ströme roten Schlammes durch die Stadt wanden, wieder zu trocknen. In dem freien Gelände um den Bahnhof war der weiche Boden durch den beständigen Strom des Verkehrs so aufgerissen und durcheinandergequirlt worden, daß die Fuhrwerke in den tiefen Wagenfurchen manchmal bis an die Nabe einsanken. Eine ununterbrochene Reihe von Militärwagen und Ambulanzen, die Vorräte und Verwundete einund ausluden, verschlimmerten noch mit ihrem ewigen Hin und Her die allgemeine Verwirrung. Fahrer fluchten, Maultiere wateten tief durchs Wasser, und meterweit spritzte der Schmutz.
Scarlett stand auf dem unteren Trittbrett des Zuges, eine bleiche, hübsche Erscheinung in ihrer schwarzen Trauerkleidung mit dem Krepp- Schleier, der lang herunterfiel. Sie zauderte, sich Schuhe und Rocksaum zu beschmutzen, und hielt in dem lärmenden Durcheinander von Lastwagen, Einspännern und Equipagen nach der pausbackigen Miß Pittypat Ausschau. Da kam ein alter dürrer Farbiger mit grauem Bart und würdevoller Herrschermiene, den Hut in der Hand, auf sie zugestapft.
»Miß Scarlett, nicht wahr? Ich bin Peter, Miß Pittys Kutscher. Nicht in den Schmutz treten!« befahl er streng, als Scarlett den Rock zusammenraffte, um auszusteigen. »Sie sind genauso schlimm wie Miß Pitty, und sie ist wie ein kleines Kind und holt sich immer nasse Füße. Ich will Sie tragen.«
Trotz seiner Bejahrtheit nahm er Scarlett mühelos auf den Arm, zögerte aber, als er auf der Plattform des Zuges Prissy mit den Kind erblickte. »Ist dieses kleine Mädel Ihr Kindermädchen? 0h, Miß Scarlett, die ist aber v iel, viel zu klein für Master Charles' einziges Baby! Aber das später. Mädel, kommhinter mir her, und daß du mir das Baby nicht fallenläßt!«
Scarlett ergab sich drein, zur Equipage getragen zu werden, und fügte sich auch in 0nkel Peters unverblümte Art, an ihr und Prissy Kritik zu üben. Als sie durch den Schmutz zogen und Prissy maulend hinter ihr herwatete, fiel ihr ein, daß Charles ihr ja auch von »0nkel Peter« erzählt hatte.
»Er hat die ganzen mexikanischen Feldzüge mit Vater zusammen mitgemacht und ihn gepflegt, als er verwundet war. Er hat ihm das Leben gerettet. Eigentlich hat er Melanie und mich aufgezogen, denn wir waren sehr klein, als Vater und Mutter starben. Damals hatte Tante Pitty ein Zerwürfnis mit ihrem Bruder, 0nkel Henry. Daher kam sie zu uns, wohnte bei uns im Hause und sorgte für uns. Sie ist das hilfloseste Geschöpf unter der Sonne - ein liebes erwachsenes Kind, und so behandelt 0nkel Peter sie auch. Um nichts in der Welt kann sie einen Entschluß fassen, also faßt stets Peter ihn für sie. Er hat bestimmt, daß ich mit fünfzehn Jahren ein größeres Taschengeld bekam, er bestand darauf, daß ich für mein Studium nach dem ehrwürdigen Harvard ging, während 0nkel Henry lieber gesehen hätte, wenn ich auf einer der neuen Universitäten möglichst rasch meine Examina machte. 0nkel Peter hat darüber entschieden, wann Melly alt genug war, ihr Haar aufzustecken und auf Gesellschaften zu gehen. Er sagt Tante Pitty, wann es zu kalt und naß für sie ist, um Besuche zu machen, und wann sie einen Schal um die Schultern nehmen muß. Er ist der prächtigste und treueste Schwarze, den ich je gesehen habe. Die einzige Schwierigkeit bei ihm ist, daß wir drei mit Leib und Seele sein Eigentum geworden sind - und daß er das weiß.«
Charles' Worte wurden vollen Umfangs bestätigt, als 0nkel Peter auf den Bock stieg und die Peitsche ergriff.
»Miß Pitty«, erklärte er, »hat Zustände, weil sie Sie nicht von der Bahn holen konnte. Sie fürchtete, daß Sie das nicht verstehen. Aber ich habe ihr gesagt, daß sie und Miß Melly über und über mit Schmutz bespritzt würden, und die neuen Kleider würden dabei verderben, und ich würde es Ihnen schon erklären. Miß Scarlett, Sie nehmen das Kind besser selbst auf den Arm, das kleine farbige Baby läßt es doch noch fallen.«
Scarlett blickte zu Prissy hinüber und seufzte. Das geschickteste Kindermädchen war sie tatsächlich nicht. Ihre neuerliche Beförderung vom hageren Farbigen mit kurzem Rock und steif eingebundenen Zöpfen zu der Würde eines langen Kattunkleides und eines gestärkten weißen Turbans hatte berauschend auf sie gewirkt. Nie hätte sie diese hohe Stufe so früh im Leben erklommen, hätten nicht die Erfordernisse des Krieges es Ellen unmöglich gemacht, Mammy oder Dilcey oder auch nur Rosa oder Teena zu entbehren. Prissy hatte sich bisher nie weiter als eine Meile von Tara oder Twelve 0aks entfernt, und die Reise in der Eisenbahn zusammen mit ihrer Erhebung zum Kindermädchen ging fast über das kleine Hirn ihres schwarzen Kopfes hinaus. Die zwanzig Meilen lange Reise von Jonesboro nach Atlanta hatte sie so aufgeregt, daß Scarlett die ganze Fahrt über das Kleine auf dem Schoß hatte halten müssen. Nun zerrüttete der Anblick so vieler Häuser und Menschen Prissys Haltung vollends. Sie drehte sich von einer Seite nach der andern, zeigte mit dem Finger und sprang in die Höhe und brachte das Baby so in Unruhe, daß es kläglich zu schreien begann. Scarlett sehnte sich nach Mammys festen alten Armen. Mammy brauchte ein Kind nur in ihre Hände zu nehmen, schon war es still. Aber Mammy war auf Tara, und Scarlett konnte nichts tun. Würde sie das Kind nehmen, so würde es genauso durchdringend wie bei Prissy schreien und außerdem an ihren Hutbändern zerren und ihr das Kleid kraus machen. Sie tat deshalb so, als habe sie 0nkel Peters Rat nicht gehört.
Читать дальше