„Hast du Herrn Becher noch nicht über die Vorfälle informiert?“
„Nein, bis jetzt noch nicht. Ich denke, wir sollten ihn anpiepsen und dann auch direkt die Spurensicherung aus Dieken kommen lassen.“
Das „lassen“ wäre ihr fast im Hals stecken geblieben. Rainers Hand hatte ihre losgelassen. In seinen Augen sah sie, dass etwas nicht stimmte. Rainer wusste, wie man mit einer Handbewegung jemandem die Halswirbel brechen konnte. Aus seiner Tasche holte er einen schwarzen Lederhandschuh, wie ihn alle Polizisten mit sich führten. Er streichelte ihr mit der linken Hand über das blonde, kurz geschnittene Haar. Dann schnellte seine Rechte an ihren Unterkiefer, sodass der Kopf ruckartig nach hinten flog.
Es knackte, wie wenn man dürres Holz im Winter für den Kamin klein machte. Nur, dass hier kein dürres Holz gebrochen wurde, sondern einer der Halswirbel von Damaris Rollflügel. Eigentlich hätte Damaris nun die letzte Ehre zu Teil werden sollen. Jedoch war dort niemand, der für sie ein Gebet sprach oder ihre vor Todesangst geweitet Augen schloss. Erst, wenn die Spurensicherung ihren Job gemacht hatte, würde sie mit einem städtischen Leichenwagen abtransportiert werden und dann würden auch ihre Augen geschlossen werden.
Für Rainer war dies hier ein Job, für den er bezahlt wurde und diesen wollte er gut ausführen. Mit seiner rechten, immer noch vom Lederhandschuh geschützten Hand, drückte er somit den Notrufknopf, um zusätzliche Streifenwagen zur Station zu ordern. Als Nächstes wurde Jörn Becher angepiepst und die Spurensicherung aus Dieken gerufen. Alles musste jetzt sehr schnell gehen. In der Regel braucht der nächstgelegene Streifenwagen höchstens drei Minuten bis zur Polizeistation und Herr Becher würde auch in den nächsten zehn Minuten hier auftauchen. Er war zwar ein unausstehlicher Typ, hatte aber einen Scharfsinn, der nicht unterschätzt werden durfte.
Vier Stunden Schlaf sind viel zu wenig, dachte Kaleb, als er beim Piepsen des Weckers sein Daunenkissen über den Kopf legte, um dieses schrecklich gleichmäßig monotone Piepsen nur noch gedämpft hören zu müssen. In der Küche sprang die elektronische Zeitschaltuhr der Kaffeemaschine an. In wenigen Minuten würde die Küche von Kaffeeduft erfüllt sein. Dann ein paar Aufbackbrötchen mit Nutella und der hausgemachten Erdbeermarmelade, die er jedes Mal auf dem Bauernhof einkaufte, wenn er dort Kati bei ihren Reitstunden zuschaute. Zu der Erdbeermarmelade noch ein wenig Quark, obwohl er sich da nicht mehr sicher war, ob er noch ein Päckchen im Kühlschrank hatte. Allmählich konnte er sich damit anfreunden aufzustehen, wenn da nicht immer noch dieses monotone Piepsen des Weckers gewesen wäre. Er zog das Kopfkissen zur Seite und betätigte den Schieber an seinem Wecker, sodass zumindest dieser Krach ein Ende hatte. Das einzige Geräusch war nun das Dampfen der Kaffeemaschine. Drei Tassen schwarzer Bohnenkaffee warteten darauf, sein Blut in Wallung zu bringen. Noch mehr als über drei Tassen Kaffee hätte sich Kaleb jetzt gefreut, neben Kati aufzuwachen und ihr einen Guten-Morgen-Kuss zu geben. Aber er hatte ihr eindeutiges Angebot gestern Abend im Auto ja abgelehnt. Es half nichts, er musste jetzt aufstehen. Sein morgendlicher Rundgang durch die Wohnung zeigte ihm, dass alles in Ordnung war, die Vorhängeschlösser waren an ihrem Platz, alle Jalousien unten und die Fenster geschlossen. Wenn er jetzt die Brötchen in den Backofen stellte, hatte er noch zehn Minuten zum Duschen und Rasieren, das sollte reichen.
Das Bad war das größte Manko in seiner Wohnung. In erster Linie war es viel zu klein. Offenbar hatte der Monteur, als er hier die Armaturen anbrachte, einen ganz schlechten Tag gehabt. Das Waschbecken hing gerade so tief, dass es für Leute von einem Meter sechzig oder kleiner geeignet war. Kaleb hingegen musste sich mit seinen ein Meter einundachtzig immer bücken. Eigentlich war das ganze Bad für Kleinwüchsige. Der Duschkopf konnte höchstens auf einen Meter siebzig geschoben werden, Kaleb musste beim Duschen immer in die Hocke gehen. Der Spiegel vom Hängeschrank zeigte ihm, wenn er aufrecht stand, gerade noch die Mitte seiner Stirn, aber nicht mehr seine Haare. Egal, das Haus hatte zwanzig Wohnungen und war so anonym, dass sich keiner dafür interessierte, was sein Nachbar macht oder nicht macht und der Vermieter lebte irgendwo in Australien. Wenn die Miete pünktlich gezahlt wurde, bekam man auch den Hausverwalter, Herrn Ropp, nie zu Gesicht. Herr Ropp war ohnehin ein besonderer Mensch. Er hatte als Hausmeister die Wohnung im Erdgeschoss bezogen. Kaleb hatte im Fahrstuhl einmal mitbekommen, wie zwei Frauen wetteten, dass selbst eine kommunistische Wanderschnecke schneller sei als Herr Ropp, und innerlich hatte er ihnen recht gegeben und gegrinst. Nein, Herr Ropp würde nie freiwillig eine Wohnung inspizieren, und selbst wenn er darum gebeten wurde, dauerte es Tage, wenn nicht Wochen, bis er den Ersatzschlüssel gefunden hatte und sich zu der Wohnung aufmachte.
Daher war die Wohnung für ihn perfekt. Es war eines von zwei etwas höheren Häusern in der Stadt und dadurch, dass er im obersten Stockwerk wohnte, konnte ihm auch eigentlich nie jemand ins Fenster schauen.
Er griff nach dem dunkelblauen Handtuch, das auf dem Hocker neben der Dusche lag.
In der Küche waren die Brötchen schon seit einigen Minuten fertig, aber nicht verbrannt, sondern goldbraun und knackig warm. Er wollte erst ein paar Brötchen essen und zumindest eine Tasse Kaffee trinken, bevor er seine E-Mails abrief und sich die neuesten News im Internet anschaute. Das mit den E-Mails war immer ein sehr kurzes Unterfangen. Seine E-Mail-Adresse war lediglich seinem Chef und Kati bekannt.
Da er Kati eigentlich fast jeden Tag sah, brauchten sie sich keine E-Mails zu schicken und sein Chef gab ihm lediglich kurze Statements zu seinen Artikeln oder bat ihn darum, vielleicht über dieses oder jenes Thema einen Artikel zu verfassen.
Der schwarze Kaffee tat seine Wirkung und sein Kreislauf lief jetzt, eine halbe Stunde, nachdem er aufgestanden war, auf Hochtouren. Wie befürchtet, hatte er beim letzten Einkauf vergessen, seinen Quarkvorrat aufzufüllen. Auf den Genuss des Quarkaufstrichs unter der Erdbeermarmelade musste er somit verzichten. Zum Glück war der Kaffee gut und die Nutella reichte noch für zwei Brötchen.
Normalerweise arbeitete er mit dem Notebook nur im Büro oder in der Redaktion, eigentlich setzte er sich damit niemals an den Frühstückstisch, aber heute machte er eine Ausnahme. Mit der Kaffeetasse in der Hand holte er das Notebook aus seinem Arbeitszimmer und stellte es auf dem Küchentisch auf.
Sein Passwort für das Internet war eine zehnstellige Nummer, die er damals vom BND bekommen hatte und die ihm, bis auf eine, alle Türen im geheimen Ausbildungslager in Beichbach in Ostbayern, nahe der tschechischen Grenze geöffnet hatte. Diese Nummer war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er sie, selbst wenn er nachts aus dem Schlaf geweckt würde, aufsagen konnte.
„Sie haben drei neue E-Mails“, meldete eine Stimme aus dem PC-Lautsprecher. Das war ungewöhnlich. Von gestern Abend bis heute Morgen hatte Kati ihm bestimmt keine E-Mail geschrieben und drei E-Mails von seinem Chef? Naja, vielleicht ein Lob für den Artikel von letzter Woche, eine Anregung für den Artikel morgen und – mal was Neues – eine Gehaltserhöhung. Seine Finger glitten über das Touchpad und der Mauscursor bewegte sich zu seinem E-Mail-Programm. Ein Doppelklick auf die linke Maustaste und das Programm öffnete sich.
Kaleb hustete die Brocken, die er noch vom Brötchen im Hals hatte, auf den Monitor und die Kaffeetasse fiel aus seiner Hand auf die hellblau-weiß marmorierten Küchenfliesen.
Mit einem Satz sprang er auf und lief in sein Schlafzimmer. Die kugelsichere Weste hing ganz rechts im doppeltürigen Kleiderschrank. In sein Schulterhalfter steckte er seine zwei kleinkalibrigen Waffen. Eine dritte Waffe saß in einem Halfter an seinem rechten Fuß. Hastig machte er sich aus der Wohnung. Zum Glück waren zu dieser Uhrzeit nur sehr wenige Menschen in diesem Haus unterwegs und zumindest im Treppenhaus oder im Fahrstuhl begegnete ihm niemand. Der Fahrstuhl war jetzt ohnehin zu langsam. Er sprang die Treppe hinunter und nahm immer vier Stufen auf einmal. Sein Coupé stand eine Straße weiter auf einem Sonderparkplatz für die Mieter des Hauses in der Diamond Street.
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