„War was?“ fragte Kati.
Sie hatte ein gutes Gespür für gefährliche, nicht alltägliche Situationen. Kaleb schüttelte den Kopf, lächelte sie liebevoll an, aber gab ihr darauf keine Antwort.
Als sie auf der von Straßenlaternen beleuchteten Hauptstraße ankamen, legte sich seine innere Anspannung. Kati hatte den Sitz nach hinten gedreht und war mit einem Lächeln im Gesicht eingeschlafen. Wenn sie von seiner Vergangenheit erfahren würde, wüsste sie, dass es eine Menge Menschen gab, die schon lange Zeit auf der Suche nach ihm waren und kein Problem damit gehabt hätten, ihn oder sonst jemanden aus seinem näheren Umfeld zu töten.
Nach einer halben Stunde Fahrt waren sie an dem einsam gelegenen Landhaus, in dem Kati wohnte, angekommen. Er hatte sie schon oft noch mit hineinbegleitet, dort waren sie dann gemeinsam eingeschlafen oder hatten noch lange über Gott und die Welt geredet. Den folgenden Tag begannen sie dann immer mit einem gemeinsamen Frühstück, bevor Kati zur Arbeit in die städtische Verwaltung und er – zu seinem Job in dem örtlichen Verlag ging. Aber heute Nacht nicht, dachte er. Am Haus angekommen zwickte er sie sachte in den Bauch. Natürlich fragte sie ihn, ob er noch mit hineinkommen wollte. Diese Frage gehörte an das Ende eines solchen Abends, wie das Amen in der Kirche.
Aber irgendetwas drängte Kaleb, heute Nacht lieber in seine Mietwohnung in der Stadt zu fahren.
„Nein, heute nicht, ich muss morgen früher raus und mich auf meinen Artikel im Feuilleton vorbereiten.“
Kati schaute etwas überrascht, da es ganz selten vorkam, dass er nicht mehr mit hineinkam und vor allem nach dem, was eben passiert war, hätte sie es erwartet. Aber sie konnte ihn ja auch nicht zwingen, noch mit hineinzukommen.
„Schade, ich hätte gerne morgen früh da weiter gemacht, wo wir eben am See aufgehört haben, aber wenn du nicht kannst, ...“
Sie küsste ihn, dann ging sie ins Haus.
Normalerweise dachte Kaleb bei der Rückfahrt an Kati und dass er im Leben noch nie so einer Frau begegnet war. Aber heute drehten sich seine Gedanken darum, ob sein Gehör ihm einen Streich gespielt hatte und er sich das Spannen der Sehne einer Armbrust oder eines Sportbogens nur eingebildet hatte. Eigentlich war dies nahezu unmöglich, denn sein Hörsinn war der Schärfste seiner Sinne. Aber wenn dort im Wald jemand gestanden und auf ihn gezielt hatte, wieso hatte er dann nicht geschossen? Oder war gar nicht er, sondern Kati das Ziel und wenn ja, wieso?
In seiner Wohnung befestigte er von innen die drei zusätzlichen Ketten an der Tür und kippte das Wohnzimmerfenster. Die Fenster öffnen wollte er nicht, dann hätte das schusssichere Glas, das er sich extra anfertigen ließ, keinen Sinn mehr gehabt. So stand er am gekippten Fenster, rauchte genüsslich seine Zigarette und dachte darüber nach, was zu tun sei, falls jemand aus seiner längst vergessenen Vergangenheit ihn gefunden hätte. Aber das konnte und wollte er einfach nicht glauben.
Deutschland einige Tage zuvor -
„Polizeinotruf eins eins null, was ist Ihr Anliegen?“
Für einige Sekunden blieb die Leitung stumm. Dann wiederholte Frau Rollflügel ihre Frage: „Was ist Ihr Anliegen?“
Aber sie bekam keine Antwort.
Damaris Rollflügel wollte gerade in den Hörer rufen, dass dies keine Leitung für blöde Scherze sei. Aber da erklang auch schon der gleichmäßige Piepston, der ihr zeigte, dass ihr Gegenüber bereits aufgelegt hatte.
So machte sie ihre übliche Notiz in ihren Berichtsbogen über einen Anruf um zwei Uhr dreiundfünfzig.
Ein seltsamer Anruf. Am nächsten Morgen würde sie den aufgezeichneten Anruf dem Chef der Polizeistation vorspielen. Eigentlich wollte sie mit ihrem Chef nicht viel zu tun haben und war froh, wenn sie zur Nachtschicht eingeteilt war. Aber es gehörte zu ihrer Pflicht, ihn über alle eingegangen Anrufe zu informieren. Sie mochte den Chef der Polizeistation, Jörn Becher, nicht. Sie hatte immer das Gefühl, dass er ihr, sobald sie sich umdrehte, auf den Hintern starrte und auch seine Art, mit seinen Mitarbeitern umzugehen, behagte ihr nicht. Mit seiner Körpergröße von höchstens einem Meter fünfundsechzig und seinem kleinen Schmerbauch, der sich unübersehbar hinter seinem in der Regel schlecht gebügelten Hemd befand, zählte er nicht gerade als Musterbeispiel für einen durchtrainierten Polizisten. Das und seine chauvinistische, arrogante Art machten Herrn Becher in ihren Augen zu einem der unausstehlichsten Männer, denen sie bisher je begegnet war. Just in dem Moment, als Frau Rollflügel aufstehen und sich im Flur einen Kaffee aus dem Automaten im Flur holen wollte, klingelte das Telefon zum zweiten Mal. Nicht nur, dass es ungewöhnlich war, dass in einer Stadt wie Lichtach überhaupt jemand nachts die Notrufnummer wählte, aber nachts um kurz vor drei zum zweiten Mal innerhalb von fünf Minuten war eine echte Ausnahme.
„Notruf eins eins null, was ist Ihr Anliegen?“
Auch diesmal passierte nichts. Wieder war kein Ton zu hören. Damaris Rollflügel hielt den Atem an. Sie wollte gerade den Knopf für die Funkverbindung mit einem heute Nacht tätigen Streifenwagen betätigen, als sie zwei gedämpfte Schüsse im Erdgeschoss der Polizeistation hörte.
Kurze Zeit später ging das Licht im Treppenhaus an und sie vernahm Schritte. Ihr Puls sprang auf zweihundert und sie konnte das Pochen ihrer Halsschlagader spüren, ihre Hände waren schweißnass und ihr Mund wurde trocken.
Die Schritte im Treppenhaus kamen immer näher. Schnell drückte Damaris den Knopf für die Funkverbindung mit einem der diensthabenden Streifenwagen.
„Notfall in der Zentrale, bitte direkt kommen.“
Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis derjenige, der dort die Treppe hinauf kam, die Tür zu ihrem Büro aufstoßen würde. Da sie keine Polizistin, sondern lediglich Angestellte für den Polizeinotruf war, hatte sie nicht einmal eine Waffe. Aber sie wusste, dass einer der Polizisten, eine Pistole in der oberen Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte – allerdings befand sich dessen Büro am anderen Ende der Etage und so war es unmöglich, jetzt dorthin zu gelangen, ohne demjenigen, der auf der Treppe war zu begegnen. Sie glitt von ihrem Stuhl und versteckte sich unter ihrem Schreibtisch. Auf der Straße konnte sie entfernt die Sirenen des Streifenwagens hören, sie lauschte, ohne die Augen von der Tür ihres Büros zu lösen. Nach ihrer Berechnung musste sich diese jeden Moment öffnen. Ihr Blick fixierte die Türklinke, aber nichts passierte. Die Schritte, die sie vor wenigen Momenten noch deutlich gehört hatte, waren verschwunden. Das Einzige, was jetzt durch die Räume schallte, waren die Sirenen, die höchstens noch eine Straße von der Polizeistation aufheulten. Ihre Kehle war trocken und ihre Hände schweißnass. Der Streifenwagen war jetzt vor der Polizeistation, die Sirenen verstummten und das Einzige, was sie hörte, waren zwei flüsternde Männerstimmen. Es dauerte nicht lange, dann stand Rainer Heimer, einer der Polizisten dieser Station, mit erhobener Waffe in ihrem Büro. Eine Sekunde später betrat ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte, mit der Waffe im Anschlag den Raum.
„Damaris, was ist los?“, sagte Rainer und seine Stimme hatte etwas an sich, dass sie schwer zuordnen konnte. Augenblicklich wurde ihre Haut aschfahl und mit zitternder Stimme antwortete sie auf die Frage. „Irgendjemand war hier in der Station und es gab zwei Schüsse. Wo sind die beiden Wachleute, die unten im Foyer Dienst haben?“ Eigentlich war ihr die Antwort klar.
Rainer nahm ihre Hand. Damaris fiel sofort auf, dass seine Hand ganz kalt war. „Sie sind tot“, sagte er leise. „Hast du irgendjemand gesehen? Oder war irgendetwas Ungewöhnliches in dieser Nacht?“
„Gesehen habe ich nichts, ich habe nur die zwei gedämpften Schüsse gehört. Ja und dann gab es da ein Telefonanruf. Es hat wie ein Jungenstreich geklungen. Ich habe aber alles auf Band und werde es morgen dem Chef vorspielen.“
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