»Das sind die vorderen Knöchel der Pferdebeine, das weiß doch jeder«, sagte Lucie noch verärgert über Marcs Bemerkung von vorhin. Sie streckte ihm die Zunge heraus.
»Geht Kirsten auch mit?«
»Ja, wir wollen beide mit ihm Springen. Wir können es kaum erwarten.«
Lucie war mit ihrem Müsli fertig. Sie stand auf und ging aus der Küche, um sich für die Schule zu richten.
»Denkt bitte daran, dass wir über das Wochenende zur Oma fahren. Sie freut sich schon auf uns. Nicht dass ihr was mit euren Freunden ausmacht«, rief ihr ihre Mutter noch nach.
»Muss das sein?«, fragte Marc gelangweilt.
»Ja, das muss sein. Oma hat euch schon lange nicht mehr gesehen.«
Lucie war bereits in ihr Zimmer gegangen. Sie zog sich an und verschwand im Bad, um sich die Zähne zu putzen und die Haare zu brüsten. Gelegentlich benutzte sie etwas Lippenstift, obwohl ihre Eltern das nicht so gerne sahen.
Sie mochte den Rosaroten am liebsten, und wenn sie ihn nicht jeden Tag auftrug, hatte ihre Mutter mittlerweile auch nichts mehr dagegen.
Marc klopfte an die Türe.
»Beeil dich mal, ich muss auch noch ins Bad.«
Lucie hörte Marc rufen, reagierte aber nicht darauf. Sie stand vor dem Spiegel und bürstete sich die Haare. An manchen Tagen hatte sie viel zu tun, bis sie endlich durch ihre Mähne durch war.
Es klopfte wieder.
»Ja, ja«, sagte Lucie genervt. Sie ließ Marc absichtlich noch etwas warten, dann öffnete sie die Tür.
»Na endlich«, sagte Marc und verschwand im Bad.
Lucie ging in ihr Zimmer, um ihre Schultasche zu holen. Sie packte noch die restlichen Sachen ein und ging dann wieder in die Küche. Marc war bereits wieder da und zog sich gerade die Schuhe an.
»Dein Pausenbrot habe ich dir gerichtet und hier hast du noch etwas Geld, damit du dir was zu trinken kaufen kannst. Es wird heute wieder ziemlich heiß.«
Ihre Mutter gab ihr das Geld und Marc streckte sofort seine Hand aus. Natürlich bekam er ebenfalls was für ein Getränk, nur gab er es meistens für etwas anderes aus.
Lucie steckte die Münzen in ihren Geldbeutel, gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich mit einen »Tschüss« von ihrem Vater.
Dann ging sie zum Schuppen neben dem Haus, in dem die Fahrräder untergebracht waren. Sie holte ihr Rad, schwang sich auf den Sattel und radelte los.
Am Horizont stand die Morgensonne bereits über den Bäumen und strahlte Lucie entgegen. Auf der braunen Haut ihrer Nase und den Wangen leuchteten ein paar Sommersprossen. Ihre Haare flatterten im Wind. Lucie war ein hübsches Mädchen. Das hatten auch schon viele Jungs in ihrer Umgebung festgestellt.
Doch Lucie dachte in ihrer Freizeit nur an Pferde.
Lucie radelte durch die mittlerweile warme Luft und dachte an das Springen mit Ramon, den sie am Nachmittag besuchen wollte.
Ramon war sieben Jahre alt und ein wirklich schönes Pferd. Er war braun und sein Fell glänzte unheimlich in der Sonne. Seine Augen funkelten und blickten aufmerksam in die Welt.
Lucie war mit sechs Jahren das erste Mal im Reitstall gewesen. Ihre Mutter hatte sich dort mit ihrer Freundin getroffen und sie mitgenommen. Die Freundin ihrer Mutter besaß ein eigenes Pferd und daher trafen sie sich gelegentlich auch mal im Reitstall. Damals hatte Lucie noch Angst vor den großen Tieren gehabt. Sie hielt immer Abstand zu ihnen und traute sich nicht, sie zu streicheln. Wenn ihre Mutter den Pferden etwas aus der Hand zu Fressen gab, wollte Lucie sie natürlich auch füttern. Bevor die Pferde aber das trockene Brot von ihrer Hand nehmen konnten, zog sie ihren Arm ängstlich zurück und das Brot fiel auf den Boden. Daheim musste die Mutter das Pferd spielen und Lucie wollte sie füttern. Und da klappte es auch prima. Als sie dann aber erneut den großen Tieren gegenüberstand, verließ sie immer wieder der Mut.
Alles änderte sich, als Ramon geboren wurde. Die Mutter von Ramon war das Pferd von der Freundin ihrer Mutter. Deshalb durften sie auch bei der Geburt dabei sein. Lucie hatte sich sofort in Ramon verliebt. Wie er so wackelig auf seinen Beinen stand. Ramon war zu diesem Zeitpunkt nicht größer als Lucie. Dadurch hatte sie keine Angst vor ihm und streichelte ihn auch schon bald nach der Geburt. Von diesem Tag an wollte Lucie immer mit der Mutter in den Reitstall, um nach Ramon zu sehen.
So kam es auch, dass sich Lucie schnell mit Kirsten anfreundete. Kirsten war die Tochter der Freundin ihrer Mutter. Obwohl sie sich schon lange kannten, hatten sie sich bis dahin nicht besonders gut verstanden. Das änderte sich schnell, als Lucie ihre Liebe zu den Pferden entdeckte.
Auch Kirsten war eine Pferdenärrin und so verbrachten die beiden viel Zeit miteinander. Sie sprachen über Pferde, malten Bilder von den Tieren und hielten sich in ihrer Freizeit meistens bei Ramon, seiner Mutter und den anderen Pferden im Reitstall auf.
Kirsten war wie Lucie dreizehn Jahre alt und mittlerweile waren sie beste Freundinnen geworden. Kirsten wohnte am anderen Ende des Ortes, ganz in der Nähe der Schule.
Sie gingen in die gleiche Klasse und hatten einen festen Punkt, an dem sie sich jeden Morgen trafen, um den restlichen Weg zur Schule gemeinsam zurückzulegen.
»Hey Lucie, was ist denn mit dir los?«, hörte sie plötzlich Kirsten rufen.
Lucie war so in Gedanken an Ramon versunken gewesen, dass sie doch glatt an ihrer Freundin vorbei gefahren war.
»Hallo Kirsten. Entschuldige, aber ich war in Gedanken schon wieder bei Ramon. Ich freue mich auf heute Nachmittag. Dann werden wir endlich mit ihm zum Springen können.«
»Du solltest erst einmal an unsere Klassenarbeit denken. Kannst du mir nachher eigentlich noch mal die Textaufgaben von letzter Woche erklären? Die habe ich immer noch nicht kapiert.«
»Na klar, die sind doch ganz einfach.«
»Du hast gut Reden. Mir graust es jetzt schon davor.«
Kirsten mochte Mathe überhaupt nicht. Sie konnte sich viele Formeln nicht merken, war dafür aber in Deutsch besser als Lucie. Besonders liebte sie es, Aufsätze zu schreiben.
Kirsten hatte eine blühende Phantasie, die ihr in einigen Arbeiten zugutekam, in anderen schoss sie aber auch schon mal deutlich über das Ziel hinaus. Lucie und Kirsten halfen sich oft bei den Hausaufgaben.
Sie waren ein gutes Team. Und das hatte auch noch einen anderen Vorteil. Gemeinsam waren sie so schneller mit den Aufgaben fertig und konnten dann früher im Reitstall sein.
Sie stellten ihre Fahrräder an der Schule ab und schlossen sie an die Fahrradständer an.
Vor drei Jahren war Lucie einmal ihr Fahrrad an der Schule gestohlen worden. Sie war spät dran gewesen und hatte es, um Zeit zu sparen, nicht abgeschlossen. Daheim gab es ein gewaltiges Donnerwetter von ihren Eltern. Aber das war für Lucie nicht mal das Schlimmste. Bis sie ein neues Fahrrad hatte, musste sie in die Schule und in den Reitstall laufen. Das kostete doch einiges an Zeit und im Sommer bei großer Hitze war sie immer schon verschwitzt, bis sie ankam. Es dauerte vier Wochen, bis ihr ihre Eltern ein neues Fahrrad gekauft hatten. Die Hälfte davon musste sie auch noch von ihrem eigenen Geld bezahlen. Und das war ärgerlich.
Lucie war eine eifrige Sparerin. Was ging, steckte sie in ihre Spardose, die die Form eines Pferdes hatte. Davon leistete sie sich dann immer wieder ein paar Reitstunden.
Zum Glück hatte sie ab und zu in den Ferien die Möglichkeit, im Reitstall zu arbeiten.
So war sie mit den Pferden zusammen und konnte sich auch noch etwas Taschengeld dazu verdienen.
Sie gingen in ihr Klassenzimmer im ersten Stock.
Lucie und Kirsten saßen nebeneinander am Fenster.
Hinter Ihnen saßen Klaus und Mike, daneben Peter und Stefan. Die vier Jungs hingen die meiste Zeit zusammen und unterhielten sich über Computer und Handys.
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