Ich erinnere mich noch genau, wie erdrückend der Anblick dieser Gedenkstätte war. Die Stimmung in unserer Gruppe war über das gesamte Auslandssemester hinweg fröhlich bis albern. Als wir von der Greenwich Street auf das Gelände des Memorials einbogen, war davon schlagartig nichts mehr zu spüren. Mit einem Mal hatte es uns die Stimme verschlagen und wir standen mehrere Minuten einfach nur wie angewurzelt vor einem der Brunnen. Je mehr Eindrücke wir aufnahmen, umso erdrückender wurde die Atmosphäre. Wir blickten auf die riesigen Brunnen, die die Dimensionen der Twin Towers verdeutlichten. Das benachbarte One World Trade Center diente als Höhenvergleich zu den Türmen, die innerhalb kürzester Zeit in sich zusammengestürzt waren. Und dann waren da noch weinende Angehörige, die eine weiße Rose in einen der eingravierten Namen steckten und damit den Terroranschlag auf einmal personalisierten.
Bis heute habe ich keinen Ort auf dieser Welt besucht, der mich so sehr hat erstarren lassen wie das 9/11-Memorial. Natürlich war ich mit acht Jahren nicht in der Lage, die Tragweite des Ereignisses entsprechend einzuordnen, und habe den 11. September 2001 nicht so intensiv erlebt wie beispielsweise meine Eltern. Dennoch gibt es genügend Dokumentationen, Bilder und Videos von den Anschlägen, um das Ausmaß zu kennen. Und diese Bilder im Kopf wurden plötzlich unglaublich real, als ich knapp 15 Jahre nach den Anschlägen direkt am Ort des Geschehens stand.
Für die zweite Erfahrung war eine solche Transformation von Gedanken in die Realität hingegen nicht notwendig, da ich sie zum Zeitpunkt des Geschehens aus nächster Nähe miterlebte. Im August 2017 lag ich gerade mit drei Freunden an der Playa de Bogatell in Barcelona, als uns die Eilmeldung zu einem Anschlag auf der beliebten Einkaufsstraße La Rambla erreichte.
Am Strand wurde es unruhig, da sich die Nachricht schnell unter den Badegästen verbreitete. Einige brachen sofort hektisch auf, andere – so auch wir – blieben zunächst am Strand. Nicht aber als Zeichen der Ignoranz, sondern aus purer Verunsicherung. Die Anschläge in Paris hatten zwei Jahre zuvor gezeigt, dass es auch mehrere Ziele geben könnte. Dennoch fühlten wir uns am Strand sicherer, als mit der U-Bahn oder mit dem Taxi zurück zu unserer Unterkunft zu fahren. Nach etwa zwei Stunden entschieden wir uns, in einem benachbarten Imbiss essen zu gehen, um anschließend ein Taxi zu rufen. Es herrschte eine bedrückende Stimmung und wir redeten kaum miteinander. Gespannt blickten wir auf die Nachrichten, die im Fernseher hinter dem Tresen liefen. Innerlich waren wir alle schwer mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt. Noch am Montag hatten wir uns unbeschwert in das faszinierende Nachtleben von Barcelona gestürzt. Nun saßen wir hier und wollten eigentlich nur zurück nach Deutschland.
Es war vor allem ein Gedanke, der uns allen schwer zu schaffen machte. Was wäre gewesen, wenn sich der Attentäter zwei Tage früher zu seiner Tat entschieden hätte? Zu dieser Zeit befanden wir uns nämlich sehr lange auf eben jener Einkaufsstraße, auf der 48 Stunden später 13 Menschen starben. Es dauerte einige Tage, bis wir diese emotionalen Eindrücke eingeordnet und entsprechend verarbeitet hatten.
Die mit Abstand prägendste Erfahrung ereignete sich jedoch kurz bevor Jonas Hector im Viertelfinale der EM 2016 den entscheidenden Elfmeter für Deutschland verwandelte. Im Sommer 2016 fuhr ich mit dem Zug nach Paris und besuchte Emma, die ich im Auslandssemester kennengelernt hatte. Das Gastgeberland der Europameisterschaft war im absoluten Fußballfieber und in der Stadt waren mehrere Fanmeilen aufgebaut, auf denen die Spiele live übertragen wurden. Für das Spiel Deutschland gegen Italien fiel unsere Wahl auf die Fanmeile am Eiffelturm. Das für 92.000 Menschen ausgelegte Areal war an diesem Tag schätzungsweise zu 60 Prozent gefüllt, sodass knapp 55.000 Menschen zusammen das Spiel sahen. Wir standen in der Mitte des Geländes und blickten auf die riesige Videoleinwand, hinter der sich der Eiffelturm imposant in die Luft erhob. Das Wahrzeichen der Stadt war aufwendig beleuchtet und in der Dämmerung ergab sich eine einmalige Atmosphäre.
Diese wurde allerdings in der 80. Minute jäh unterbrochen, als auf einmal die gesamte Menschenmasse vor uns – also bis zu 27.000 Fans – panisch auf uns zugelaufen kam. Ohne zu wissen, was passiert war, griff ich nach Emmas Hand und wir sprinteten los. Nach einigen Metern stürzte sie sogar und Menschen stolperten über sie. Zusammen mit einem italienischen Fan konnte ich sie zum Glück sofort wieder auf die Beine bringen und wir schafften es, das Gelände lediglich mit ein paar Kratzern zu verlassen und den Heimweg anzutreten. Auch hier fühlte ich mich unglaublich unsicher in der Stadt. Da unsere einzige Möglichkeit nach Hause die Bahn war, verschwand dieses Gefühl auch erst, als wir zuhause ankamen und die Tür hinter uns verschließen konnten.
Im Vergleich zum Anschlag in Barcelona wurde bei dieser durch eine kleine Prügelei ausgelösten Massenpanik niemand schwerer verletzt und die Berichte schafften es nur vereinzelt bis nach Deutschland. Aber mitten in einer terrorgefährdeten Stadt, die von schwer bewaffnetem Militär beschützt wird, rechnet man für einen kurzen Augenblick mit dem Schlimmsten, wenn auf einer Großveranstaltung tausende Menschen panisch auf einen zugelaufen kommen. Daher sind die Bilder in meinem Kopf auch deutlich intensiver abgespeichert als die Bilder aus Barcelona. Wenn ich mich an den Moment zurückerinnere, ist die Szene in meinem Kopf immer mit einer Musik unterlegt, die bei Computerspielen wie Age of Empire genutzt wurde, um eine Angriffsszene akustisch zu dramatisieren. Ich glaube, allein das verdeutlicht, wie prägend dieses Ereignis für mich war.
Ich bin sehr froh, dass dieser Film trotz allem nicht allzu oft in meinem Kopf abgespielt wird. Auch haben die Erlebnisse nicht dazu geführt, dass ich große Menschenansammlungen außerhalb von Corona nicht mehr besuchen möchte. Dennoch zählt dieser Abend, genau wie Barcelona und New York, zu den prägendsten Ereignissen, die ich bisher erlebt habe und die ich seitdem als Teil meiner eigenen Geschichte mit mir trage. Jede dieser Erfahrungen trug dazu bei, dass ich mich für eine kurze Zeit intensiver mit dem Sinn des Lebens beschäftigte und allmählich begann, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Vor allem nach Paris dachte ich viel darüber nach, was ich im Leben erreichen möchte, bevor es vielleicht irgendwann unerwarteterweise zu spät sein könnte.
Der erste Schritt
Auch wenn die Ereignisse im Anschluss wieder von meinem Alltag überlagert wurden, verstärkten sie weiter meinen Antrieb, die eigene Einstellung zum Leben zu hinterfragen. Nicht, dass mir meine Zukunftsplanung vorher egal gewesen wäre. Schließlich hatte ich nach meiner Schule ein Bachelorstudium angefangen, um mich für die berufliche Laufbahn vorzubereiten.
Nur überkam mich das Gefühl, dass ich etwas machen wollte, um meine persönliche Entwicklung voranzutreiben. Zu sehr hatte ich die letzten 24 Jahre in der eigenen Komfortzone verbracht. Zwar wohnte ich bereits seit einem Jahr unter der Woche nicht mehr zuhause, doch waren die Eltern und das gewohnte Umfeld immer noch als Absicherung in unmittelbarer Nähe.
Aus diesem Grund traf ich 2017 die finale Entscheidung, meine Zelte im Rheinland abzubrechen und für ein Masterstudium mit Schwerpunkt Marketing & Sales Management und einen neuen Job nach Hamburg zu ziehen. Ich wollte mich einer neuen Herausforderung widmen, die ich außerhalb meines gewohnten Umfeldes angehen und an der ich persönlich wachsen konnte.
Bis die Entscheidung final getroffen war, musste ich mich allerdings meinen Zweifeln und Ängsten stellen. Ich fertigte unzählige Pro-Contra-Listen an und überlegte mir, welche Auswirkungen ein Umzug für mich bedeuten würde. Vor allem der Abschied von meiner Familie und von den Freunden, die teilweise seit über 15 Jahren an meiner Seite waren, ließ mich zögern. Auch der Abschied von der heißgeliebten Domstadt würde große Überwindung erfordern, ebenso wie der Aufbruch ins Ungewisse. Nach reifen Überlegungen kam ich zu dem Schluss, dass es der perfekte Zeitpunkt für einen vorübergehenden Abschied war. Als Single mit Mitte 20 stand ich fest genug im Leben und war gleichzeitig so unabhängig wie unter Umständen in keiner folgenden Phase des Lebens. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und zog in den Norden.
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