Als ich endlich, viel zu müde, um überhaupt noch über irgendetwas nachdenken zu können, ins Zimmer torkle, liegt Phoenix in meinem Bett und schläft schon. Amüsiert darüber, wie sie das Bett verwechseln kann, schalte ich das Licht meines Smartscreens aus, ziehe mich auf dem Weg zu dem Bett meiner besten Freundin aus und kuschle mich erleichtert unter ihre Decke. Kurz befällt mich ein Gedanke, ob sie und Jayden womöglich in meinem Bett Sex miteinander hatten, aber ich schaffe es diesen verwirrenden Gedanken abzuschütteln.
Ich bin mittlerweile gut darin, alle dunklen Gedanken auszublenden. Wenn man seit Jahren weiß, dass man sterben wird, und alles Erdenkliche versucht hat, über die eigene Krankheit herauszufinden, oder unternommen hat, seinen Körper zu stärken, und nichts Hoffnung verspricht, dann wird man zur Spezialistin darin. Ich bin Spezialistin im Umgang mit dem Sterben. Aber das war nicht immer so.
Nach dem Tod meines Bruders und der Erkenntnis, dass ich auch draufgehen werde, da war meine Angst übermächtig.
Ich hätte alles dafür gegeben, um nicht so eine furchtbare, erdrückende Angst zu haben. Aber jetzt bin ich ganz ruhig. Vielleicht gibt es mich bald nicht mehr. Wahrscheinlich ist mein Körper schon in ein paar Tagen tot. Einfach nicht mehr existent. Kann nicht mehr fühlen, riechen, schmecken und nicht mehr denken. Mittlerweile kann ich diese Gedanken aushalten, ohne mich zu übergeben. Es ist einfach so. Es können nicht alle Geschichten gut ausgehen. Als mein Bruder noch lebte, da fühlten wir uns so sicher. Wir waren Glückskinder. Wie naiv. Wir wussten um die Kriege und den Terror auf der Welt. Hunger und Leid. Der Tod schreit uns heute noch täglich von den Screens an, wo sie die News in alle Welt senden. Wir wussten, wie sterbende Kinder aussehen. Aber die Härte des Lebens gab es immer nur in den Schicksalen anderer. Mein Bruder war auch für die meisten anderen Menschen, einer dieser anderen. Für ihn gab es kein Happy End und als die Krankheit auch bei mir ausgebrochen ist, war mir klar, dass es für mich auch keins gibt. Ich habe mich nicht mehr unbesiegbar gefühlt. Habe geforscht und gesucht und geübt und alles, was die Ärzte mit mir tun wollten, über mich ergehen lassen. Aber irgendwann, da hört man auf. Nicht zu kämpfen, sondern zu grübeln. Ich bin eine Kämpferin, aber mir fiel nichts mehr ein. Nichts, das Hoffnung versprach. Und jetzt ist sie plötzlich wieder da. Hoffnung. Davidi hat davon gesprochen.
Vielleicht gibt es doch noch ein Happy End für Naomi Engel. Aber mit der Hoffnung kommt auch die Angst zurück. Todesangst. Unmittelbar und brutal. Ich versuche sie zu bändigen, wie ich es die ganzen Jahre über geschafft habe, damit ich nicht wieder durch das Tal der puren Hilflosigkeit und Ohnmacht hindurch gehen muss. Damit ich einschlafen kann und morgen zur Vorlesung gehen kann, als würde mir der Tod nicht im Nacken sitzen. Es hat keinen Sinn, sich seinen Gedanken und Ängsten zu ergeben, das habe ich doch gelernt.
Ich benötige Schlaf, will jetzt endlich einschlafen. An dem Tag, an dem mein Bruder gestorben ist, ist der Tod zu mir gekommen und für immer geblieben. Auch die größte Willensanstrengung konnte mir mein altes Leben nicht zurückgeben, also lebe ich mein Neues. Carpe diem. Endlich spüre ich, wie der Schlaf sich meiner bemächtigt.
Sie steht auf einem Felsen, über ihr erstreckt sich endlos weit der Sternenhimmel, unter ihr, bis an den Rand des Horizonts, das fruchtbare Tal. Sie sieht von oben herab. Erblickt den breiten Strom nackter Sklaven, der sich vom Nil herauf wälzt. Erahnt die Hellhäutigen und Schwarzen, die Plattnasigen und Wulstlippigen und die Geschorenen. Sie stinken nach schlechtem Öl und Schweiß. Der Geruch nach Rettich, Zwiebeln und Knoblauch steigt im Morgendunst auf.
Sie hört sie ächzen und seufzen. Unter den Peitschenhieben der Aufseher ziehen sie über die von unzähligen Schritten polierten Platten der Granitstraße, die sich vom Nil herauf bis zum imposanten Bauplatz erstreckt.
Sie stöhnen unter der Last schulterschneidender Stricke und zerren riesige, auf Walzen langsam rollende Schlitten herbei, die beladen sind mit kolossalen Steinen. Unter ihrem Geschrei, ihrem Gestöhn, ihrem Sterben wächst die Pyramide.
Sie wendet sich gegen Süden, fühlt sich verbunden mit der Stadt, die dort im endlos weiten Wüstensand emporsteigt, um den Göttern zu huldigen.
Dunst steigt auf und verschleiert ihre Sicht und während sie weiter von jenen entlegenen Orten träumt, rücken die Laute der Sklaven in weite Ferne, so als würden die Sklaven hier verharren und sie emporsteigen, in andere Sphären aufsteigen und sich entfernen, als säße sie in einem Flugobjekt.
Auf einem anderen Planeten zu einer anderen Zeit landet sie und schwebt dort elfengleich über einen schmalen Holzsteg. Ihre Schritte wirbeln Nebel auf, lassen sichtbare Luftkringel entstehen, die hinaus wandern, auf das sich erstreckende Wasser. Sie bleibt stehen und bewundert die wunderschöne Landschaft. Segelboote die das Sonnenlicht als Energiequelle nutzen, sind in der Ferne zu erahnen. Sie scheinen die Sonne zu erwarten, welche den Nebel auflöst, die Dämmerung ablöst. Das wird ein Spektakel, wenn sich die ersten Sonnenstrahlen millionenfach an den Tautropfen reflektieren werden. Doch der ersehnte Augenblick tritt nicht ein . Stattdessen scheint der erste Sonnenstrahl auf seinem Weg hierher, zu ihr, auf ein Hindernis zu treffen.
Sie steht da und schaut gebannt zu, wie das goldene Licht sich bemüht, als würde es sich durch eine Flüssigkeit kämpfen und nicht durch Luft. Endlich haben es die Strahlen bis zu ihr geschafft, um die Schatten in Zeitlupe aufzulösen. Sie genießt die sanfte Wärme auf ihrer Haut - für ein paar Augenblicke - ehe sie beschließt weiterzulaufen und diese fremde Umgebung weiter zu erkunden.
Ein Schatten legt sich über ihr Gesicht. Überrascht öffnet sie ihre Augen und erkennt, wer schuld daran hat. Ein Schöpfer befindet sich nur eine Elle von ihr entfernt, steht neben ihr. Er genießt die ersten erwärmenden Strahlen, so wie sie. Er hat seine Augen geschlossen und sie fragt sich, ob er ihre Anwesenheit denn schon bemerkt hat. Sie saugt die Form und die Andersartigkeit seiner Erscheinung auf. Er ist groß, Statur und Muskulatur sind männlich, die Gesichtszüge weich, mit einem Hauch zum Femininen. Seine Haare sind dunkel, schulterlang, bewegen sich im Wind wie zartes Wassergras. Fasziniert studiert sie seinen entblößten Oberkörper, die kleinen Haare, die seine Brust bedecken, die Haut, die sanft olivgrün schimmert und im Sonnenlicht glitzert. Er steckt in einer silbernen Hose, der Stoff glänzt wie Seide, die Farbe ist die von Wasser und Nebel und Luft, alles auf einmal. Er wirkt so sauber, als würde sein Körper jeglichen Schmutz abweisen. Nur seine Füße sind erstaunlich erdig und scheinen sich im Boden zu verankern.
Plötzlich bewegt er sich, wendet sich ihr zu, seine Muskeln vollführen wellenartige Bewegungen, das Licht wird auf wundersame Weise in verschiedenen Winkeln und Farben von ihm reflektiert. Er sieht einfach nur wunderschön aus. Als sie registriert, dass er sie mit der gleichen Neugierde betrachtet, wie sie ihn, fängt ihr Gesicht Feuer. Er blickt sie an, verfolgt mit seinen stahlblauen Augen ihre Bewegungen, bis sich ihre Blicke treffen und sich ineinander verknoten.
»Nie habe ich eine so hübsche Begnadete gesehen«, sagt er und es ist klar, dass er sie damit meint. Seine Stimme ist wie das Flüstern des Windes, das Rascheln der Blätter, das Plätschern des Wassers. Ihr Gesicht glüht. Natürlich weiß Aeia, dass das hier nur ein Traum ist. So viel Poesie, so viel Schmalz? Das gibt es nur im Traum! Das hier ist nicht echt, aber es ist ohne jeglichen Zweifel eine tolle Fantasievorstellung. Und er ist ein außergewöhnlicher Typ.
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