Nach so knapp einer Minute merkte dann auch jeder, was los war. Hier und da war jemand skeptisch und schaute verwirrt, aber die Stimmung blieb gut. Ist ja nicht der erste Stromausfall, den wir erleben. Vor allem im Winter kommt das ja leider immer mal wieder vor. Beim letzten war ich noch ein Jugendlicher. War ein ganz schönes Abenteuer damals.
Die Atmosphäre blieb friedlich und die Polizei tat ihr Übriges, damit es ein schöner Abend blieb. Man hat hier auch aus der Erfahrung gelernt, daher sahen wir einige Polizeiwagen in Richtung der ärmeren Stadtteile fahren... besser vorsichtig sein. Sie sperrten die Metrostationen ab, weswegen die Straßen natürlich total überfüllt waren. Nur das Licht der Autos und hier und da ein Einsatzwagen der Polizei gaben der Stadt Licht, sonst war es stockfinster.
Der Strom wäre bald wieder da, versicherten sie jedem, der es wissen wollte. Man kam kaum voran, so voll war es. An einem normalen Tag hätte mich das alles tierisch aufgeregt. Aber nicht heute. Das Gespräch mit David hat mich positiv gestimmt, für all das, was uns die Zukunft bringen wird. Was freue ich mich auf unsere gemeinsame Zeit!
Wir sind dann zu Fuß nach Hause. Hat über eine Stunde gedauert. Auf dem Weg erzählte mir Rebecca, dass Cameron sie geküsst hätte, als es Mitternacht schlug. Auf den Mund. Erst wollte ich lachen und sie beglückwünschen, aber dann fiel mir ja ein kleines Detail ein, das ich immer wieder vergesse: Offiziell bin ich ja ihr Freund. Habe dann versucht, auf wütend und erbost zu machen, von wegen ich müsste mal ernsthaft mit ihm reden. Was das soll, wie er das seiner Freundin antun kann und so einen Kram. Ich fand mich glaubwürdig, keine Ahnung ob sie es mir abgekauft hat. Sie hat sich dann entschuldigt. Sie war betrunken, er war betrunken, die Stimmung war so toll und so weiter. Das Übliche halt. Als wir endlich daheim waren, versuchte sie es mit Versöhnungssex, aber nun hatte ich ja gute Gründe, darauf überhaupt gar nicht einzugehen. Sie ging dann ins Bett. Ich liege nun mal wieder auf der Couch, denke an dich, schaue mir deine Fotos auf dem Telefon an und schreibe diese Zeilen. Draußen ist es ungewöhnlich still. Nur hier und da hört man Sirenen von Polizei und Rettungswagen.
Hoffen wir, dass morgen wieder alles in Ordnung ist.
Vermisse dich!
Samstag, 01. Januar, 19:30 Uhr
Hey Sally,
ich hoffe, du machst dir keine zu großen Sorgen. Ich denke, du wirst es in den News erfahren haben: Leider haben wir hier in der Stadt immer noch keinen Strom hier. Kein Telefonnetz, kein Internet. Gar nichts. Als ob wir wieder in der Steinzeit wären. Denke und hoffe das es vielleicht nur hier bei uns oder im Staat so ist und bei dir und deinen Eltern alles in Ordnung ist.
Ich bin froh, dass ich dieses Tagebuch habe, so kann ich immerhin irgendwas tun. War heute Vormittag spazieren. Wollte Richtung Park. Konnte es in der Wohnung nicht mehr aushalten, erst recht als Rebecca „das Gespräch“ führen wollte. Sie fing schon so blöde an: Der Kuss mit Cameron hätte ihr doch was bedeutet, das mit uns könne nicht so weitergehen und wir sollten reden. Eigentlich hat SIE dann nur geredet und ich war mindestens zehn Mal kurz davor, ihr von dir zu erzählen.
Doch ganz am Ende ihres Monologs, der locker eine Stunde gedauert hat, meinte sie nur, sie würde mich lieben und dass sie um uns kämpfen will. War leider nicht das, was ich hören wollte und meine Reaktion war auch dementsprechend. Das wiederum war natürlich nicht das, was sie hören wollte. Naja, bin dann raus an die frische Luft und wollte zum Park, aber schon an der Ecke sind mir die Straßensperren aufgefallen und es war deutlich mehr Polizei unterwegs als sonst. Klar, die wollen bestimmt Plünderungen verhindern und das ist auch gut so. Leider haben sie mich aber auch nicht zum Park durchgelassen. Wollte aber auch nicht zurück zur Wohnung. Also bin ich einfach ein paar Mal um den Block gegangen und dann erst zurück. Rebecca war nicht mehr da und nun sitze ich hier alleine und esse ein paar Kekse. Muss gleich mal gucken, was aus dem Kühlschrank unbedingt gegessen werden muss.
Hoffe, dir geht es gut und dass wir schnell wieder Strom haben!
Sonntag, 02. Januar, 11:30 Uhr
Rebecca ist immer noch nicht wieder da. Ich würde mir glatt Sorgen um sie machen, wenn ich das nicht von ihr gewohnt wäre. Ich habe vorhin Ernest (du weißt schon: Der Ex-Marine aus dem vierten Stock mit Armen wie Baumstämmen und dem nervösen Zucken im linken Auge) im Flur getroffen. Er meinte, durch den vielen Schnee wären wohl wichtige Stromkabel beschädigt worden und die Behörden seien dabei, diese wieder zu reparieren.
Beim letzten großen Stromausfall war es ja irgendwie ein Fehler im Programm gewesen und selbst da hatte es teilweise zwei Tage gedauert, bis alle Regionen wieder Strom hatten. Ernest machte einen ruhigen Eindruck und das bestärkt mich darin, auch an eine rasche Lösung zu glauben. Trotzdem sollte ich auf mich aufpassen.
Mich macht es eher nervös, nicht mit dir reden oder schreiben zu können. Mensch Sally, das fehlt mir … Du fehlst mir!
Immerhin habe ich ja diesen Stift und dieses Tagebuch mit noch sehr vielen leeren Seiten. Für die Taschenlampe hab ich auch noch genug Batterien, also am Schreiben kann mich erst mal nichts hindern. Ich hoffe nur, schon bald wieder mit dir reden zu können.
Denk an dich!
Sonntag, 02. Januar, 21:10 Uhr
Sie ist wieder zurück. Betrunken und sie redet seltsames Zeug ohne Zusammenhang. Sie war bei Cameron, kein Plan was da abgelaufen ist. Glaube, sie haben miteinander geschlafen und irgendwie erleichtert mich das. Wenn sie mir das später beichten sollte, kann ich ihr von dir erzählen. Oder ich sag ihr gar nichts und kann dann erstaunt und niedergeschlagen spielen. Sie hätte dann sicher ein schlechtes Gewissen und würde mich erstmal hier wohnen lassen.
Lee (der aus dem Dachgeschoss mit dem Sprachfehler, ich hatte ihn dir mal vorgespielt) erzählte mir vorhin, die Polizei würde mittlerweile von der Armee unterstützt werden und es wäre sehr sehr ruhig in der Stadt. Alle fragen sich, wann wir endlich wieder Strom haben.
Habe eben alle Joghurts gegessen, die noch da waren. Wären morgen eh schlecht geworden. Natürlich habe ich nun wieder Magenschmerzen. Glaube, du hast doch recht und ich sollte mich mal auf Laktoseintoleranz testen lassen.
Irgendwie genieße ich die Ruhe in der Stadt. Es gibt fast keinen Verkehr mehr, die Straßen sind wohl zum größten Teil gesperrt worden. Auch versucht die Polizei, die Leute nicht unnötig auf den Straßen rumlaufen zu lassen, aus Angst vor Plünderungen. Kann ich verstehen, aber momentan ist es dort draußen so ruhig wie noch nie.
Die Nacht ist frostig, der Sternenhimmel sehr klar. Ich frag mich, was du jetzt machst... Vielleicht ja an mich denken? Zumindest muss ich immer und immer wieder an dich denken. Draußen hört man Musik. Seltsam ja, aber von irgendwo kommt Jazz aus diesem Dunkeln. Kann schwer nachvollziehen woher. Der Wind trägt es, mal deutlicher, mal undeutlicher, zu mir. Ein Plattenspieler kann es ja nicht sein, aber eine Band, die sich zum Jazz trifft? Glaub ich kaum. Seltsam, aber irgendwie auch schön. Würde aber trotzdem lieber wieder meine eigene Musik hören können. Bin guter Dinge, morgen wieder Strom zu haben.
Tausend Küsse!
Montag, 03. Januar, 09:20 Uhr
Ich Idiot hab vergessen, mein Handy auszuschalten. Lief die ganze Nacht und nun ist es leer. Verdammt! Dort waren alle unsere Fotos drauf! So ein Mist!
Nun kann ich mir deine Bilder gar nicht mehr ansehen. Das betrübt mich schon sehr. Wenn ich das Telefon in den Flugmodus gesetzt hätte und es immer wieder ausgemacht hätte, hätte ich mit Sicherheit noch 90% Akku. Aber so… oh Mann, ich Trottel! Könnte mich ohrfeigen. Und ja, der Strom ist heute auch noch nicht da, sonst hätte ich dich natürlich schon längst angerufen.
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