Meine direkten Nachbarn, Alex und John, waren letztes Jahr in Europa. Für ganze fünf Wochen! Und die braucht man scheinbar auch, wenn man alles Wichtige sehen möchte. Aber ihre Fotos hättest du sehen müssen. Die hatten damals für die Nachbarn so einen Abend mit Diashow und Snacks organisiert. Und ein ganz heißer Tipp von den beiden: Budapest, Hauptstadt von Ungarn! Waren sehr angetan, denke die Stadt könnte uns auch gut gefallen.
Wir sollten also auch mindestens so fünf Wochen ins Auge fassen und das erfordert viel Planung. Nimm es mir also nicht übel, wenn ich da ein bisschen auf die Bremse getreten habe. Wir werden das machen, versprochen. Aber es muss eben alles gut überlegt sein.
Gut überlegt muss auch sein, wo ich dieses Tagebuch verstecke. Rebecca hätte es vorhin beinahe gefunden und da sie Hauptmieterin ist, könnte sie mich einfach so rauswerfen. Vielleicht würde sie es auch nicht machen, keine Ahnung. Ich denke immer noch, sie weiß, dass es dort jemand anderen in meinen Leben gibt. Wir haben uns seit nun gut neun Monaten nicht mehr angefasst. Und sie scheint auch kein Interesse daran zu haben, das zu ändern. Die ersten Wochen und Monate haben wir noch darüber diskutiert, wo die Leidenschaft hin ist. Aber spätestens, nachdem ich dich kennengelernt hatte, wollte ich sie eh nicht mehr.
Als wir vorhin zusammen gekocht haben, war sie recht wehmütig und irgendwie bedrückt. Ich habe versucht, sie aufzumuntern. Immerhin hat sie mir ja eigentlich nie was Böses getan. Gelungen ist mir das aber eher nicht. Und dann hat sie wieder von irgendwas Wissenschaftlichem geredet.
Irgendwo in Russland haben die wohl im Permafrost einen Virus gefunden, der dort zigtausend Jahre verborgen war. Sie hat sogar ihr blödes Magazin geholt und mir den ganzen (!) Artikel vorgelesen! Es drohe wohl der Untergang der Welt und so Kram. War ganz froh, als mir eingefallen ist, dass ich den Müll noch rausbringen musste. Sonst hätte sie mir ihre Gedanken zu dem Thema auch noch erläutert und mir erklärt, wieso diese Viren aus dem Permafrost für uns so gefährlich sein können und was dieser sogenannte Klimawandel damit zu tun hat.
Ich vermisse es, mit dir zu reden, mit dir gemeinsam einzuschlafen, dich zu riechen, dich zu küssen.
Hoffe, wir sehen uns bald wieder. Dein Alan.
Freitag, 31. Dezember, 15:30 Uhr
Silvester! Mensch! Dieses Jahr geht echt seltsam zu Ende. Ich habe noch nie solch eine Sehnsucht verspürt. Sie frisst mich fast auf. Ich hoffe einfach auf ein schönes neues Jahr... mit dir.
Ich weiß, ich habe das heute auch schon am Telefon gesagt, aber Sally, ich werde alles versuchen, bis Ostern bei dir zu sein. Auch wenn der Job dann vielleicht nicht ALLES hat, was ich erwarte. Ich meine, wenn ich zum Beispiel weniger Geld verdiene als hier, dann ist das halt so. Dafür kann ich dann bei dir sein und das ist mehr wert als alles Geld der Welt.
Du hast mir vorhin Fotos vom Haus deiner Eltern gesendet. Wie schön ihr alles dekoriert habt! Sieht wirklich toll aus. Hat auch gut getan, deine Stimme nochmal zu hören (wenn auch nur kurz per Sprachnachricht), aber ihr Klang bedeutet für mich Heimat, Freude und Leidenschaft. Wir müssen es irgendwie einrichten, öfter zu telefonieren oder Sprachnachrichten zu senden.
Rebecca und ich gehen nachher mit ein paar Freunden (u.a. ist Cameron dabei, du weißt schon, der Kerl, der Rebecca wohl im Herbst zu erobern versucht hatte) aus. Wir treffen uns in einem italienischen Restaurant. Danach geht es in eine Bar und schließlich raus in die Stadt. Irgendwohin, auf die Straße wohl. Mir egal wohin, solange wir eine große Uhr haben, viele Leute dort sind, es Alkohol gibt und man das Feuerwerk gut sehen kann.
Es wird mit Sicherheit ein bittersüßer Moment werden. Auf der einen Seite ist es schon immer etwas Besonderes, wenn ein Jahr zu Ende geht. Auf der anderen Seite wirst du nicht bei mir sein. Hoffentlich wirst du wenigstens eine tolle Feier haben!
Wir schreiben uns im neuen Jahr. Oder nein! Wir telefonieren. Ich ruf dich morgen auf jeden Fall an, irgendwie richte ich das schon ein. Du wirst dich sicherlich freuen.
Denk an dich! Fühle dich geküsst, Sally! Bis nächstes Jahr!
Samstag, 01. Januar, 04:30 Uhr
Frohes neues Jahr! Und was für ein Start das war, meine Güte! Ich denke, du wirst in den Nachrichten gesehen haben, was passiert ist... Oder auch nicht? Aber eins nach dem anderen.
Rebecca war gestern den ganzen Tag über seltsam melancholisch. Ich habe aus Mitleid versucht, sie aufzuheitern. Ging aber gar nicht und ich musste mir dann sogar noch ein paar Sprüche anhören. Hab sie dann einfach in Ruhe gelassen. Wir sind wie geplant zum Restaurant gegangen, haben aber kein Wort miteinander gesprochen...auf dem ganzen verdammten Weg.
Im Restaurant angekommen, hat sie dann irgendwie und ganz plötzlich eine Maske aufgesetzt. Auf einmal war alles toll, ihre Laune super und keiner der Anwesenden hätte mir geglaubt, dass sie kurz zuvor noch die Königin der Missgelaunten gewesen ist. Gleichermaßen fasziniert und angewidert stellte ich fest, wie unglaublich falsch diese Frau sein konnte. Unsere Gruppe war zu acht. Alles Pärchen, was meinen Wunsch, dich bald wiederzusehen, nur noch mehr verstärkt hat. Das Essen war ganz gut, ich hatte Pasta mit Meeresfrüchten und dazu gab es Brot und leckere Salate.
Auf dem Weg zur Bar hat Cameron dann wieder sein Spiel mit Rebecca gespielt. Ein flotter Spruch hier, ein Augenzwinkern dort... Sie mochte es, er mochte es. Camerons Freundin (Sarah) mochte es nicht so. Armes Mädchen. Ich hab da bewusst nichts gesagt, soll er es nur versuchen... Sie bedeutet mir nichts mehr.
In der Bar sind dann noch ein paar Freunde zu uns gestoßen. Einige kannte selbst ich nicht, aber immerhin hatten wir schnell eine Gruppe von fünf Männern und wir konnten uns über Sport unterhalten. Genauer gesagt: Basketball. Ich hab davon ja wenig bis gar keine Ahnung, aber alles war interessanter als mit Rebecca rumzuhängen. Sie unterhielt sich dann mit Cameron und die arme Sarah stand die ganze Zeit daneben und lächelte tapfer.
Gegen elf sind wir dann da weg und raus auf die Straße, immer dem Menschenstrom nach. Ich muss zugeben, dass ich bis hierher schon mehr Spaß gehabt hatte als gedacht. Einer der Kerle, sein Name war David, war wirklich sehr unterhaltsam und irgendwie hab ich mich ihm, angetrunken und wehleidig wie ich war, dann auch anvertraut. Hab ihm das mit dir erzählt. Ja, ich weiß! Wir hatten uns darauf geeinigt, es niemanden zu erzählen. Es musste aber raus, irgendwie. Erst war er verwirrt, weil ihm Rebecca ja als meine Freundin vorgestellt wurde. Dann hatte er aber viel Verständnis und sagte auch einige Dinge, die mich bestärkt haben, ihr so schnell wie möglich die Wahrheit zu sagen und das Ganze zu beenden.
Hat gut getan, endlich mal mit jemanden darüber zu reden. Über dich, über mich, über uns. Er meinte, er hätte ein gutes Gefühl und so wie ich über dich sprechen würde, wärst du ja die tollste Frau der Welt. Dafür würde er an meiner Stelle jedes Risiko eingehen.
Unsere Gruppe war recht groß und unübersichtlich und auf den vollen Straßen hab ich den Überblick verloren, wer zu uns gehörte und wer nicht. Für einige Sekunden hab ich sogar gedacht, dich gesehen zu haben. Da hat mein Herz einen Sprung gemacht. Das wäre zu schön gewesen!
Auf jeden Fall standen wir dann alle da, die letzten Minuten liefen und die Stimmung war gut und ausgelassen. Alle strahlten und feierten. Dann kam der Countdown:5…4...3...2...1.... Alle jubelten, alle riefen Glückwünsche durcheinander und das Feuerwerk schien noch imposanter und heller als sonst…War es dann irgendwie auch, denn plötzlich wurde mir klar, dass sämtliche Beleuchtung ausgefallen war.
Du hast das sicher schon irgendwie mitbekommen, aber die ganze Stadt ist wohl ohne Strom! Vielleicht sogar der ganze Staat, ich weiß es nicht, man erfährt ja nichts mehr. Die Handys sind auch nutzlos, keiner hat Netz! Daher konnte ich dich auch nicht anrufen, was ich so gern getan hätte. Tut mir leid, aber du wirst das sicher nachvollziehen können.
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