„Sidonius von Concarneau!“ Anstatt in die Fußstapfen von Meister Juizig zu treten und Fischer zu werden, war Szenec mit den herzoglichen Goldstücken in ein Benediktinerkloster geschickt worden, während seine eigene Herzogin die verwitwete Mutter des Knaben offensichtlich als Bedienstete in ihren persönlichen Haushalt geholt hatte.
Die Benediktiner und die ihnen verwandten Zisterzienser hatten Ambrosius Arzhur nie gestört. Der irische Mönch Columban war vor fast eintausend Jahren nach Cornouailles und Breizh gekommen. Er hatte damals gesagt: „Christus ist mein Druide“, und der Marzhin selbst hatte ihm die Hand gereicht, denn Columbans Mönche versuchten nicht zu missionieren oder die Menschen gegen die Weiße Brüder aufzubringen. Sie waren einfach da und lebten im Schutz der Steinringe und der Eichenhaine oder als Eremiten, tief in den Wäldern, die sich durch den Passais und das Bocage bis tief in die von den Nordmännern beanspruchte Normandie erstreckten. Sie lebten in Frieden miteinander, sie kannten einander gut und jeder schätzte den anderen für das was er war.
Aus unerfindlichen Gründen waren Sévran und der Sohn des Fischers von der Felsenküste offensichtlich schon immer Freunde gewesen. Sévran war zu Anfang des Sommers, nach der Katastrophe von Azincourt zusammen mit Aodrén in den Heiligen Wald, nach Brocéliande fortgegangen, um den alten Göttern zu dienen. Szenec hatte sich einen neuen Gott gesucht. Es hatte ihrer Freundschaft scheinbar keinen Abbruch getan. Genauso wenig wie der Unterschied in ihrer Geburt und die vielen Jahre, die sie sich nun schon nicht mehr gesehen hatten. Er würde natürlich auch einen Boten zu Sévran schicken, damit dieser die Neuigkeiten von seinem alten Freund Szenec erfuhr.
Szenec. Ein Benediktiner! Und jetzt war er in Paris und studierte an der Sorbonne. Er schrieb, dass er es seinem Herzog schuldig war, das Beste zu versuchen. Und er hatte mit energischer Hand seinen neuen lateinischen Namen auf das Pergament gesetzt: Sidonius von Concarneau. Zu Ehren der herzoglichen Familie von Cornouailles!
„Guethenoc“, rief Ambrosius seinen Truchsess zu sich.
Der kleine, beleibte Mann sprang von der warmen Bank am Kamin hoch, auf der sich gewärmt hatte und lies dabei beinahe den Becher mit Gewürzwein fallen, den er in der Hand hielt. Ambrosius hatte sich im Verlauf vieler Jahre mit dieser Unart seines Verwalters abgefunden. Obwohl es nicht seine Gewohnheit war, die Magistraten wie Dreck zu behandeln, konnte der Truchsess sich einfach nicht angewöhnen seinen Befehlen ruhig und gelassen zu folgen. Er verbeugte sich tief vor dem Herzog: “Mein teurer Herr?“
„Lasse zwei Mönchskutten schneidern. Finde heraus was die Benediktiner für gewöhnlich tragen. Ich glaube, es ist von schwarzer Farbe.“
Der Truchsess verbeugte sich eifrig.
„Sorge auch dafür, dass es vom allerfeinsten Tuch ist, das sie tragen dürfen. Du erinnerst Dich doch noch an den Sohn von Meister Juizig, dem Fischer von Cap-Coz ? Szenec! Die Kutten schick ihm nach Paris an das Collegium Sorbonianum, wo er jetzt studiert...mit einem zuverlässigen Boten. Das versteht sich von selbst, damit er für unseren Bruder Sidonius von Concarneau auch gleich noch ein paar Goldmünzen mitnimmt. Niemand soll behaupten können, das Ambrosius von Cornouailles seine Getreuen nur von Luft und...Theologie leben lässt!“
Guethenoc schmunzelte. Für gewöhnlich lag über seinem fleischigen, bleichen Gesicht ein ernster, geschäftiger Ausdruck, insbesondere dann, wenn er die Mägde und Bediensteten des herzoglichen Haushaltes bei der Arbeit halten musste. Doch in diesem Augenblick freute er sich ehrlich darüber, wie gelassen sein Herr es aufnahm, dass der Sohn von Meister Juizig diesen sonderbaren Weg gewählt hatte, um ihm zu dienen. Ein Mann, der dem neuen Gott huldigte, obwohl er in der alten Religion erzogen worden war. Und trotzdem hatte Szenec nicht vergessen, wem seine wahre Loyalität gehören musste.
Ambrosius bediente sich noch einmal aus der Silberschale: „Aus Sevilla-Orangen gemacht“, bemerkte er anerkennend, als er die Süßigkeit kostete.
II
Es war kein Zufall , das Claire de Saint Germain, ein junger Ritter aus Anjou, sich ausgerechnet Herzog Jean Sans Peur angeschlossen hatte und in dieser warmen Nacht vom 28.Mai auf den 29.Mai 1418 unweit der Porte Saint Germain de Près, vor den Toren der belagerten Hauptstadt auf ein Zeichen des Hauptmannes de Villiers wartete. Er war von den politischen Wirren in Frankreich und den Machtkämpfen zwischen Bourgogne, Armagnac und Orléans völlig unberührt vor einem Jahr nach Troyes gekommen, um dort Nachforschungen über den Schlüssel zu einer Handschrift anzustellen, die einer seiner Vorfahren vom ersten Kreuzzug und vermutlich aus dem Heiligen Land selbst mitgebracht hatte.
Sein Vater, mehr Gelehrter und Alchemist, als Edelmann war irgendwo in der riesigen Bibliothek, die sie auf Mont Saint Marsan hatten über die Handschrift gestolpert und hatte nicht gezögert, sie seinem ältesten Sohn, mehr Adept der hermetischen Kunst, als Kriegsmann zu schicken. Claire weilte damals gerade am Hof ihres Lehnsherren König Louis und dessen Gemahlin Yolande d’Aragón, der Herzogin von Anjou und damit in unmittelbarer Nähe der berühmten Universität von Montpellier. Die Handschrift hatte den jungen Mann so fasziniert, dass er seinen Dienst bei Louis von Sizilien und Neapel aufkündigte. Ein konvertierter Jude, den er zufälligerweise in Bourges traf, hatte ihm erklärt, dass es sich um die Kopie eines der Werke des legendären Rabbi Akiba handelte. Man nannte es die Sepher Yetzirah, das Buch der Schöpfung und die Sprache, in der es geschrieben war, war das Aramäische, so wie Jesus Christus selbst es noch gesprochen hatte.
Doch der Konvertierte war natürlich nicht mehr in der Lage gewesen den Text zu übersetzen und seit den schrecklichen Judenverfolgungen im Anschluss an die Pest des Jahres 1356 machten sich Männer, die das alte Aramäisch lasen oder sprachen im Reich der französischen Könige rar. Der Konvertierte hatte lediglich wage Erinnerungen daran gehabt, dass man dieses geheimnisvolle Werk, wenn man ihrer alten Sprache mächtig war, auch mit einem Code entschlüsseln konnte, der Tetrahedron hieß und den ein Gelehrter namens Isaac von Toledo etwa zur gleichen Zeit erfunden hatte, als der Vorfahr von Claire aus Jerusalem wieder auf den Familiensitz bei Bayonne am Fuß der Pyrenäen zurückgekehrt war.
Claire hatte sich nach vielen Irrwegen und Enttäuschungen irgendwann bis in die Champagne und nach Troyes vorgearbeitet, weil er ein Gerücht hörte, dass sich dort vor etwa dreihundertfünfzig Jahren eine Gruppe von Kabbalisten und Rabbinern unter dem Schutz des Grafen Hughes niedergelassen hatte. Diese Männer, angeführt von einem gewissen Rabbi Rashi, der ein Schüler von Isaac war, hatten die ursprüngliche Sepher Yetsirah vervollkommnet und als Gelehrte in der Wissenschaft der Mathematik um den Bahir erweitert, die Schöpfung aus dem Buch Genesis, die dreifache Transformation der Prima Materiae.
Claire hatte in Troyes zwar weder den geheimnisvollen Tetrahedron aufgespürt, noch das Geheimnis seiner Abschrift des Sepher Yetsirah ergründet, doch er hatte dort einen Mann kennen gelernt, der wusste wo sich unter Umständen ein einfacherer alchimistischer Text befand, der die Anleitung für die Erschaffung des Lapis Philosophorum, des berühmten Steins der Weisen enthielt. Sie hatten bis tief in die Nacht miteinander diskutiert. Claires neuer Freund schlug vor, sein Wissen um den Verbleib des Textes preiszugeben, wenn Saint Germain dafür im Gegenzug übernahm, das Buch aus dem belagerten Paris herauszuholen. Die darauffolgenden Arbeiten würden sie gemeinsam auf der Festung de Craons - Champtocé - durchführen, wo er über einen Athenor und ein großes Laboratorium verfügte.
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