Jan blickte verunsichert auf. Er spürte, wie sein soeben neu gewonnenes Selbstvertrauen wieder zu versiegen drohte. „Nehmen wir an, ich glaube Ihnen, dann beantworten Sie mir doch bitte diese Frage: Was ist mit Alissa passiert?“
„Nun, wir wissen es nicht. Und an diesem Punkt kommen Sie ins Spiel. Die letzte Nachricht von Dr. Bracke lässt nicht vermuten, dass sie in Problemen steckte. Sie war mit ihrem Kollegen Dr. Gregory Boyd auf dem Weg von einer Ausgrabung zu einem vorab vereinbarten Treffpunkt mit mir, bevor sie verschwand. Sie sind nie dort angekommen. Wir haben keine Ahnung, wo sie sich jetzt befindet.“
Patterson machte eine kleine dramatische Pause, um die Worte sacken zu lassen. „Sie waren mit Dr. Bracke neun Jahre zusammen. Ich nehme an, niemand kennt sie besser als Sie.“ Erneut hielt er inne. Überraschenderweise wirkte er in diesem Moment verunsichert, was überhaupt nicht zu dem Eindruck passen wollte, den Jan bislang von ihm erhalten hatte. „Ich weiß, um was ich Sie jetzt bitten möchte, ist ungewöhnlich, allerdings sehe ich im Moment leider keinen anderen Ausweg. Sehen Sie, ich vermute, Dr. Bracke hat vor ihrem Verschwinden etwas Wichtiges entdeckt. Vielleicht ist sie sogar deswegen verschwunden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Fakt ist, wir wissen es nicht. Deswegen möchten wir Sie um Ihre Mitarbeit bitten. Wir brauchen jemanden, der ihre Unterlagen sichtet; jemanden, der sie gut kennt. Vielleicht sehen Sie etwas, das uns entgangen ist. Wenn es jemandem gelingt, ihre letzten Schritte nachzuvollziehen, dann sind sicherlich Sie das.“
Für einen kurzen Augenblick flackerte eine Emotion über Pattersons versteinert wirkende Miene. Jan war sich nicht sicher, was er soeben zu sehen bekommen hatte. Verzweiflung?
„Vielleicht können Sie sogar mehr für uns tun“, nahm Patterson seinen Faden nach ein paar Sekunden wieder auf. „Sie sind ein geachteter Experte auf Ihrem Gebiet. Vielleicht können Sie sogar Dr. Brackes Platz einnehmen, bis sie wieder bei uns ist. Ihre Arbeit fortsetzen, sozusagen.“
„Ich bin allerdings kein Archäologe, ich bin Historiker, falls Ihnen das entgangen sein sollte“, warf Jan ein. „So gerne ich Ihnen dabei helfen würde, Alissa zu finden, unterscheidet sich meine Arbeit wesentlich von der eines Archäologen. Es treibt mich selten in die Wildnis, um irgendwelche Dinge auszugraben, die irgendjemand irgendwann dort verloren hat.“
Patterson zuckte mit dem Mund, als ob er lächeln wollte. In seinem Gesicht sah das irgendwie beängstigend aus. „Professor Seibling, halten Sie uns nicht für Amateure. Das ist uns natürlich bewusst. Natürlich würden wir Ihnen einen erfahrenen Archäologen zur Seite stellen. Vorausgesetzt natürlich, Sie entscheiden sich dazu, unser Angebot anzunehmen.“
Patterson holte ein paar weitere Papiere aus seiner Aktentasche. „Falls Sie sich entschließen, für uns zu arbeiten, werden wir Sie natürlich finanziell dafür entschädigen, mit einer nicht unerheblichen Summe, nebenbei bemerkt. Und, bevor Sie weitere Einwände anbringen; wir werden uns selbstverständlich um alle Bindungen, denen Sie durch Ihre Tätigkeit an der Universität unterliegen, in Ihrem Sinne kümmern.“ Er hielt Jan einen Füller hin. „Bevor ich weiter ins Detail gehe, wären Sie so freundlich, ebenfalls einen Geheimhaltungsvertrag zu unterzeichnen?“ Er hüstelte kurz. „Reine Formsache. Sie verstehen sicherlich, dass ich mich absichern muss.“
Jan zögerte kurz. Er dachte an Alissa. Was war mit ihr passiert? Ohne Zweifel, ihre Trennung hatte ihn verletzt, viel mehr, als er jemals irgendjemandem gegenüber zugegeben hatte. Für einen kurzen Moment war er versucht, aufzustehen und einfach zu gehen, doch ein kleiner Teil von ihm sorgte sich immer noch um sie. Hatte Angst um sie. Egal, was zwischen ihnen vorgefallen war, er durfte sie nicht im Stich lassen. Jedenfalls nicht so, wie sie ihn im Stich gelassen hatte.
Er seufzte und setzte mit einer geübten Handbewegung seine Unterschrift unter das Schriftstück. „Und jetzt, wo ich unterschrieben habe, erwarte ich Antworten“, sagte er ruhiger, als er sich tatsächlich fühlte. „Sie erwähnten etwas von einer Ausgrabung, auf der Alissa eingesetzt wurde. Das wäre ein Anfang. Wonach hat Alissa für Sie gesucht? Was ist es, das die NASA so brennend interessiert?“
Patterson zog den Vertrag zu sich heran und musterte Jans Unterschrift kritisch. „Sie wissen, was Sie gerade unterschrieben haben?“, fragte er misstrauisch. „Ihnen ist hoffentlich klar, dass wir hier nicht von einem Handyvertrag reden, den Sie innerhalb von zwei Wochen widerrufen können?“
„Schon klar“, wiegelte Jan ab. „Ich weiß, wozu ich mich gerade verpflichtet habe.“ Er nickte Patterson auffordernd zu. „Also? Worum geht es hier?“
„Nun gut“, murmelte Patterson zufrieden. „Ich sehe keinen Grund, Ihnen den wahren Grund unseres Treffens weiter vorzuenthalten. Kurz gesagt; Dr. Bracke hat für uns nach Atlantis gesucht.“
„Atlantis!?“, lachte Jan irritiert auf. Mit allem hätte er gerechnet, nur nicht damit. „Atlantis!?“, wiederholte er noch einmal, als ob er damit Pattersons Aussage etwas mehr Sinn verleihen könnte. „Das ist doch Blödsinn! Atlantis ist nichts anderes als ein Hirngespinst eines griechischen Philosophen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie Alissa für eine solch haarsträubende Geschichte gewinnen konnten!“
„Dr. Bracke hat anfänglich ähnlich reagiert wie Sie.“ Patterson stand auf und machte einen Schritt auf den Ausgang zu. „Wenn Sie mir bitte folgen würden, dann werde ich Ihnen zeigen, was ihre Meinung letztendlich geändert hat.“ Einladend hielt er Jan seinen ausgestreckten Arm hin. „Vertrauen Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.“
Skeptisch musterte Jan Patterson. Bislang war das ganze Gespräch sehr merkwürdig verlaufen. Noch immer war ihm nicht klar, worum es bei der ganzen Sache überhaupt ging. Wahrscheinlich wäre es in diesem Moment schlau gewesen, einfach nach Hause zu gehen und zu vergessen, was er heute gehört hatte. Dummerweise konnte er das nicht, zumindest, solange Alissa in Gefahr schwebte. Vorausgesetzt natürlich, Patterson sagte die Wahrheit. Allerdings, was hatte er zu verlieren, nachdem er den Knebelvertrag unterschrieben hatte? Zumindest konnte er sich anhören, was Patterson zu sagen hatte. Wenn ihm seine Antworten nicht gefielen, konnte er schließlich immer noch gehen.
„Nun gut. Allerdings müsste ich kurz in meiner Universität anrufen und mich für heute abmelden.“
„Keine Sorge“, sagte Patterson mit einer unverschämt anmutenden Arroganz, „Ihr Einverständnis voraussetzend, haben wir uns die Freiheit genommen, die Sache bereits in die Hand zu nehmen. Ich bin sicher, Sie werden sich dazu entscheiden, unser Angebot anzunehmen. Wir werden ihre Dienste etwas länger in Anspruch nehmen müssen, deswegen sind Sie die nächsten Wochen vorsorglich krankgeschrieben.“
6) Deutschland, München, 03. Juli 2007
Bill lächelte zufrieden. Die Mappe enthielt alle Informationen, die er für seinen Auftrag benötigte. Bills Auftraggeber hatte sich mit der Ausarbeitung dieser kurzen Vita selbst übertroffen. Tatsächlich listete sie sogar mehr Details auf, als eigentlich für einen ersten Eindruck der Zielperson notwendig gewesen wären, ein paar Belanglosigkeiten, irrelevante private Informationen. Doch Bill wusste auch diese augenscheinlich unnützen Trivialitäten zu schätzen. Es konnte nie schaden, seinen Opponenten gut zu kennen. Das half, Überraschungen zu vermeiden.
Bill blätterte erneut durch die Seiten. Interessanterweise hatte auch sein Auftraggeber mit seiner akribischen Vorbereitung mehr über sich verraten, als er beabsichtigt hatte. Die wenigen handschriftlich beigefügten Zeilen verrieten einen gewissenhaften, aber auch verbissenen Charakter, zielgerichtet, allerdings mit leichtem Hang zu blindwütigem Fanatismus. In seinem Job konnte sich Bill seine Auftraggeber nicht immer aussuchen, deswegen hatte er gelehrt, vorsichtig zu sein. Vertraue niemandem . Eine Regel, die ihm bisher immer gute Dienste geleistet hatte, genau wie seine oberste Direktive: Vorbereitung ist alles .
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