Berge fand kein Menschenkind mehr den Weg,
weil der Zauber gelöst und die Prinzessin von ihrem
Bann befreit worden war, durch ihr kluges Rößlein,
das den rechten Befreier und Gemahl ihr zugetragen.
Der goldne Rehbock
Es waren einmal zwei arme Geschwister, ein Knabe
und ein Mädchen, das Mädchen hieß Margarete, der
Knabe hieß Hans. Ihre Eltern waren gestorben, hatten
ihnen auch gar kein Eigentum hinterlassen, daher sie
ausgehen mußten, um durch Betteln sich fortzubringen.
Zur Arbeit waren beide noch zu schwach und
klein; denn Hänschen zählte erst zwölf Jahre und
Gretchen war noch jünger. Des Abends gingen sie
vors erste beste Haus, klopften an und baten um ein
Nachtquartier, und vielmal waren sie schon von guten
mildtätigen Menschen aufgenommen, gespeiset und
getränket worden; auch hatte mancher und manche
Barmherzige ihnen ein Kleidungsstückchen zugeworfen.
So kamen sie einmal des Abends vor ein Häuschen,
welches einzeln stand; da klopften sie ans Fenster,
und als gleich darauf eine alte Frau heraussah, fragten
sie diese, ob sie hier nicht über Nacht bleiben dürften?
Die Antwort war: »Meinetwegen, kommt nur
herein!« Aber wie sie eintraten, sprach die Frau: »Ich
will euch wohl über Nacht behalten, aber wenn es
mein Mann gewahr wird, so seid ihr verloren; denn er
isset gern einen jungen Menschenbraten, daher er alle
Kinder schlachtet, die ihm vor die Hand kommen!«
Da wurde den Kindern sehr angst; doch konnten sie
nunmehr nicht weiter, es war schon ganz dunkle
Nacht geworden. So ließen sie sich gutwillig von der
Frau in ein Faß verstecken und verhielten sich ruhig.
Einschlafen konnten sie aber lange nicht, zumal, da
sie nach einer Stunde die schweren Tritte eines Mannes
vernahmen, der wahrscheinlich der Menschenfresser
war. Des wurden sie bald gewiß, denn jetzt fing er
an mit brüllender Stimme auf seine Frau zu zanken,
daß sie keinen Menschenbraten für ihn zugerichtet.
Am Morgen verließ er das Haus wieder, und tappte so
laut, daß die Kinder, die endlich doch eingeschlummert
waren, darüber erwachten.
Als sie von der Frau etwas zu frühstücken bekommen
hatten, sagte diese, »Ihr Kinder müßt nun auch
etwas tun, da habt ihr zwei Besen, geht oben hinauf
und kehrt mir meine Stuben aus, deren sind zwölf,
aber ihr kehret davon nur elf, die zwölfte dürft ihr
ums Himmelswillen nicht aufmachen. Ich will derzeit
einen Ausgang tun. Seid fleißig, daß ihr fertig seid,
wenn ich wieder komme.« Die Kinder kehrten sehr
emsig, und bald waren sie fertig. Nun mochte Gretchen
doch gar zu gerne wissen, was in der zwölften
Stube wäre, das sie nicht sehen sollten, weil ihnen
verboten war, die Stube zu öffnen. Sie guckte ein
wenig durchs Schlüsselloch, und sah da einen herrlichen
kleinen goldenen Wagen, mit einem goldenen
Rehbock bespannt. Geschwind rief sie Hänschen herbei,
daß er auch hinein gucken sollte. Und als sie sich
erst tüchtig umgesehen, ob die Frau nicht heimkehre,
und da von dieser nichts zu sehen war, schlossen sie
schnell die Türe auf, zogen den Wagen samt Rehbock
heraus, setzten drunten sich hinein in den Wagen und
fuhren auf und davon. Aber nicht lange, so sahen sie
von weitem die alte Frau und auch den Menschenfresser
sich entgegen kommen, gerade des Wegs, den sie
mit dem geraubten Wagen eingeschlagen hatten.
Hänslein sprach: »Ach, Schwester, was machen wir?
Wenn uns die beiden Alten entdecken, sind wir verloren.
« »Still!« sprach Gretchen, »ich weiß ein kräftiges
Zaubersprüchlein, welches ich noch von unsrer Großmutter
gelernt habe:
Rosenrote Rose sticht;
Siehst du mich, so sieh mich nicht!«
und alsbald waren sie verwandelt in einen Rosenstrauch.
Gretchen wurde zur Rose, Hänslein zu Dornen,
der Rehbock zum Stiele, der Wagen zu Blättern.
Nun kamen beide, der Menschenfresser und seine
Frau, daher gegangen und letztere wollte sich die
schöne Rose abbrechen, aber sie stach sich so sehr,
daß ihre Finger bluteten, und sie ärgerlich davon ging.
Wie die Alten fort waren, machten sich die Kinder
eilig auf, und fuhren weiter und kamen bald an einen
Backofen der voll Brot stund. Da hörten sie aus demselben
eine hohle Stimme rufen: »Rückt mir mein
Brot, rückt mir mein Brot.« Schnell rückte Gretchen
das Brot und tat es in ihren Wagen, worauf sie weiter
fuhren. Da kamen sie an einen großen Birnbaum, der
voll reifer schöner Früchte hing, aus diesem tönte es
wieder: »Schüttelt mir meine Birnen, schüttelt mir
meine Birnen!« Gretchen schüttelte sogleich, und
Hänschen half gar fleißig auflesen, und die Birnen in
den goldenen Wagen schütten. Und wieder kamen sie
an einen Weinstock, der rief mit angenehmer Stimme:
»Pflückt mir meine Trauben, pflückt mir meine Trauben!
« Gretchen pflückte auch diese und packte sie in
ihren Wagen.
Unterdessen aber waren der Menschenfresser und
seine Frau daheim angelangt, und hatte mit Ingrimm
wahrgenommen, daß die Kinder ihren goldenen
Wagen samt Rehbock gestohlen, gerade wie diese
beiden ebenfalls vor langen Jahren Wagen und Rehbock
gestohlen, und noch dazu bei dem Diebstahl
auch einen Mord begangen hatten, nämlich den rechtmäßigen
Eigentümer erschlagen. Der mit dem Rehbock
bespannte Wagen war nicht nur an und für sich
von großem Wert, sondern er besaß auch noch die
vortreffliche Eigenschaft, daß, wo er hinkam, von
allen Seiten Gaben gespendet wurden, von Baum und
Beerstrauch, von Backofen und Weinstock. So hatten
denn die Leute, der Menschenfresser und seine Frau,
lange Jahre den Wagen, wenn auch auf unrechtmäßige
Weise, besessen, hatten sich gute Eßwaren spenden
lassen, und dabei herrlich und in Freuden gelebt. Da
sie nun sahen, daß sie ihres Wagens beraubt waren,
machten sie sich flugs auf, den Kindern nachzueilen
und ihnen die köstliche Beute wieder abzujagen.
Dabei wässerte dem Menschenfresser schon der Mund
nach Menschenbraten; denn die Kinder wollte er sogleich
fangen und schlachten. Mit weiten Schritten
eilten die beiden Alten den Kindern nach, und wurden
dieselben bald von ferne ansichtig, weil sie vorausfuhren.
Die Kinder kamen jetzt an einen großen
Teich, und konnten nicht weiter, auch war weder eine
Fähre, noch eine Brücke da, daß sie hinüber hätten
flüchten können. Nur viele Enten waren darauf zu
sehen, die lustig umher schwammen. Gretchen lockte
diese ans Ufer, warf ihnen Futter hin und sprach:
»Ihr Entchen, ihr Entchen, schwimmt zusammen,
Macht mir ein Brückchen, daß ich hinüber kann
kommen!«
Da schwammen die Enten einträchtiglich zusammen,
bildeten eine Brücke und die Kinder samt Rehbock
und Wagen kamen glücklich ans andere Ufer. Aber
flugs hinterdrein kam auch der Menschenfresser, und
brummte mit häßlicher Stimme:
»Ihr Entchen, ihr Entchen, schwimmt zusammen,
Macht mir ein Brückchen, daß ich hinüber kann
kommen!«
Schnell schwammen die Entchen zusammen, und trugen
die beiden Alten hinüber – meint ihr? nein! in der
Mitte des Teiches, da das Wasser am tiefsten war,
schwammen die Entchen auseinander, und der böse
Menschenfresser nebst seiner Alten plumpten in die
Tiefe und kamen um. Und Hänschen und Gretchen
wurden sehr wohlhabende Leute, aber sie spendeten
auch von ihrem Segen den Armen viel und taten viel
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