Langsam zog sich der Regen zurück. Was blieb, waren die Wasserlachen entlang meines Weges und der Matsch unter meinen Schuhen. Ich stampfte an den Gleisen entlang, die tief in den Boden eingesunken waren oder öffentlichkeitswirksam über den Grund zu schweben schienen. Es waren Schienen nach alter Bauweise und nicht die so sehr nach Metall glänzenden Stahlplatten, die sich just in diesem Moment durch die Straßen Neu New Yorks schlängelten. Dieser Ort atmete das Vergangene auf jedem Quadratmeter. Vor mir türmte sich der Kadaver eines Zuges auf, die Lok verschmiert mit Graffiti; der Stahl verbogen und deformiert. Viele Waggons waren noch mit Holz verkleidet oder waren es zumindest einmal gewesen. Überall lag Holz verteilt herum, abgesplittert oder abgerissen.
In der Ferne hörte ich den Antrieb eines Clouds, der weit über mir dahinschoss – nicht auszumachen am Horizont, da verdeckt von all den anderen Wolken.
Ich stand jetzt inmitten des Bahndepots flankiert von Verfall und Aufgabe. Wie ich es häufiger tat, blickte ich auch jetzt auf mein Handgelenk, wo der Zeiger meiner Uhr sich unnachgiebig links herum drehte und nicht, wie üblich, rechts. Ein Unikat, war das Zifferblatt meiner Uhr doch ab Werk spiegelverkehrt. Es war kurz nach halb sechs am Abend. Schon so spät, dachte ich bei mir. In einer halben Stunde würde sich das Alarmsignal meiner Uhr bemerkbar machen, mich vertreiben oder erinnern. Ich hoffte auf die Zeit, die mir zeigen würde, was für meine Augen noch unsichtbar war.
Kaum hatte ich darüber nachgedacht, spürte ich eine Regung, die nicht von mir ausging. Ich war plötzlich kein einsamer Cowboy mehr.
»Detective«, sprach eine tiefe Männerstimme direkt hinter mir. Ich drehte mich geschwind auf dem Absatz herum.
Ein Mann stand zwischen zwei Waggons. Er sah alt aus, geradezu zerbrechlich. Mit seinem zerzausten schulterlangen Haar und dem langen, zerfledderten Stoffmantel um seine Schultern entsprach er nicht dem Archetyp eines Kriminellen. Dennoch griff ich instinktiv an meine Pistole, zog sie aber nicht aus dem Holster. Ich wartete auf ein weiteres Wort oder sogar einen ganzen Satz – doch weder das eine noch das andere kam.
Er machte keinerlei Anstalten den Hampelmann zu spielen und blieb dabei ruhig und gelassen auf einem Punkt stehen. Seine Augen suchten nach etwas in meinem Gesicht.
»Sind Sie der Räuber?«, fragte ich in einem freundlichen Tonfall. Er antwortete nicht.
Etwas ging von ihm aus, es war aber keine Gefahr. Ich schätzte mein Gegenüber auf Mitte sechzig, betrachtete das Gesicht, die Furchen um Nase und Mund, die Falten auf der Stirn.
»Ein Sturm zieht auf«, kam von ihm.
Ich sah hoch zum Himmel, erblickte aber keine bedrohlich wabernden Wolken, die sonst immer einem Sturm vorausgingen.
»Sind Sie der Auslöser?« Standardfrage Nummer eins. »Haben Sie sich Hilfe suchend an die Einheit gewandt?« Standardfrage Nummer zwei. Ich fügte – nicht mehr nach Lehrbuch – hinzu: »Haben Sie nach uns verlangt?«
»Nach Ihnen«, antwortete er. »Nur nach Ihnen, Detective.«
Ich musterte ihn noch eingehender, als ich es bereits schon getan hatte: »Kennen wir uns?«
»Du hast dir Rang und Titel zu eigen gemacht, wie ich sehe. Und doch fällt es dir schwer, dich zu erinnern!?« Er schloss die Augen, öffnete sie dann aber wieder abrupt. »Was ist von deiner Vergangenheit geblieben?«
»Sagen Sie mir Ihren Namen, dann kann ich Ihnen vielleicht helfen«, entfuhr es pflichtschuldigst meinen Lippen.
»Was ist ein Name wert, wenn die Geschichte bereits geschrieben steht, Sean?«
Ich war erstaunt: »Sie wissen, wer ich bin?«
»Der kleine Sean; das warst du einmal. Ich bin mir nur nicht mehr ganz sicher, wer du jetzt bist.« Er zeigte mir ein Lächeln. »Als ich dich fand, warst du zwölf. Eine einsame Seele, die von ihrer Mutter im Stich gelassen wurde.«
»Wer sind Sie?«, wollte ich noch einmal wissen. Diesmal mit mehr Nachdruck.
Er schien davon unbekümmert: »Du hattest die Wahl, ob du bei deiner toten Mutter bleiben oder das Risiko eingehen solltest, eine neue Familie zu finden. Weißt du noch, wie du dich entschieden hast?«
»Woher wissen Sie das von meiner Mutter?«
»Dass sie dir geraubt wurde?« Es war eine Frage, die mich aufs Geratewohl traktierte. Ich dachte, ich hätte dieses Kapitel als geschlossen abgetan und den Schlüssel irgendwo tief in mir vergraben. Jetzt grub ein mir Fremder ihn vor meinen Füßen wieder aus.
»Es waren die Drogen und der Alkohol.«
»Dante und Vergil«, ergänzte er.
»Ihr Wissen ist weitverbreitet«, sagte ich, nicht ohne Ironie, um der Situation die Anspannung zu nehmen.
»Ich weiß einiges und doch ist es nicht genug. Dass Quentin dich bei sich aufnahm, ist jedoch kein Geheimnis.« Quentin ... »Er war dir ein Vater, als du einen am dringendsten brauchtest. Und Räuber ...« Er unternahm eine kurze Pause. »Räuber mochtest du sofort.«
Ich wusste nicht, was ich sagen, noch wie ich auf all das reagieren sollte. Es kam mir geradezu unwirklich vor, diesen Mann vor mir zu haben, der mich so sehr kannte, wobei ich nicht wusste, wer er war. Mutter, Quentin, Räuber, ja, selbst mich, Sean – er konnte Kapitel aufsagen, in denen sie alle mitspielten.
Ich beschloss, in die Offensive zu gehen: »Warum beantworten Sie nicht meine Fragen?«
»Dafür ist es noch zu früh, für anderes ist es wiederum zu spät. Sobald du dazu bereit bist, wirst du selbst die Antworten auf all deine Fragen finden.«
»Wofür bereit?«
Er sah sich in der Gegend um, als würde er nach jemandem Ausschau halten.
»Wir haben nicht mehr viel Zeit, Sean.« Zügig griff er an die Innenseite seines Mantels. Ich reagierte blitzschnell und zog meine Pistole. »Sachte, Mister.« Ich zielte auf sein Knie.
Er hielt erst in der Bewegung inne, kramte dann aber dennoch in seiner Tasche herum. Zum Vorschein kam ein matt schimmernder Gegenstand. Keine Waffe, so viel stand schnell fest, woraufhin ich dazu überging, meine Pistole an der Seite herabbaumeln zu lassen, jedoch jederzeit wieder bereit, mich einer plötzlich auftretenden Gefahr zu stellen.
»Du müsstest wissen, was das ist. Gerade jetzt, wo du selber ein Rad im Getriebe der Einheit bist.« Er warf den Gegenstand vor mir in den Schlamm, damit ich ihn besser sehen konnte. Es war eine Polizeidienstmarke der Einheit von Neu New York. Ich hob sie auf und fuhr mit dem Daumen darüber. Das Metall fühlte sich warm und kalt an. Das Logo war teilweise verdeckt, von etwas, das nach blauer Farbe aussah, die bereits zur Gänze eingetrocknet war und sich nicht mehr abkratzen ließ.
Der Alte sprach weiter: »Sie kamen an einem Zwölften; Polizeimänner. Sie stürmten das Gebäude, in dem ich mich zu der Zeit mit meiner Frau Mel aufhielt.«
Bei der Aussprache des Namens blickte er nach oben hoch zu den Wolken, wobei sein Adamsapfel sichtbar auf und ab hüpfte.
»Sie war schwanger. Der Zwölfte war der Tag, an dem sie unsere Tochter gebar. Ich war auf dem Weg zu ihr, um sie zu ermuntern und ihr bei der Geburt beizustehen, wurde aber aufgehalten.« Er deutete auf die Marke in meiner Hand. »Allein Mels Schreie trieben mich voran. Ich war verzweifelt und wollte zu ihr, nichts ahnend was mich erwarten würde.«
Er versuchte eine Träne zu unterdrücken, was ihm aber nicht gelang.
»Ich kam zu spät.«
Mir versetzte das Geschilderte einen Stoß. Was blieb, war ein mulmiges Gefühl. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Mel lag bereits im Sterben, als ich sie im Hof fand – blutüberströmt und in Tränen aufgelöst. Wie so oft stand Gott an diesem Tag nicht auf unserer Seite. Er nahm mir den Menschen, den ich über alles liebte. Doch ...« Er fixierte mich so plötzlich, dass mir der Atem stockte. »Unsere Tochter hat es geschafft. Zoe hat es geschafft. Sie lebte.«
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