Mit der rechten Hand tippte ich MESSAGE in das kurz zuvor aufgepoppte Feld. Das rötliche Aufleuchten erstarb daraufhin und wurde von einem grünlichen »Die Farbe der Hoffnung«-Dauerleuchten abgelöst. Die Nachricht ließ mich jedoch innehalten:
»RÄUBER AM BAHNDEPOT«
»Räuber«, wiederholte ich flüsternd zu mir selbst. Sofort dachte ich an Quentin ... und an eben jenen Räuber mit der Hundeschnauze und dem Stummelschwänzchen. Wie lange war es her, dass wir ihn in der Natur zurückgelassen hatten? 15 Jahre? Vielleicht mehr? Es wollte mir in diesem Moment nicht einfallen, zu sehr war ich von der Nachricht überrascht. Sie wirbelte meinen Gedankenhaushalt wild durcheinander und sorgte für ein Schaudern. Ich hatte immer noch den rechten Arm vor der Frontscheibe erhoben. Unbeabsichtigt tippte ich das Wort Räuber an, woraufhin eine Erklärung aufsprang:
Räuber:
Einbrecher
Schurke
Dieb
Ich ergänzte die Auflistung in Gedanken: bester Freund. Spielkamerad. Tod.
Nur langsam fiel die Starre von mir ab. Ich beruhigte meine Nerven, indem ich mehrmals kräftig ein- und ausatmete, wie ich es in solchen Momenten immer tat. Was es auch war, ich musste zum Bahndepot und der Wahrheit ins Auge sehen.
Sekunden später hatte ich den Cloud auf Touren gebracht und in der Luft hängen.
Die nächste Haltestelle: Vergangenheit.
Während des Fluges spürte ich die Anspannung. Sie war da, obwohl ich sie nicht wollte, nicht schon wieder. Meine Hände umklammerten das Steuerportal mit einem Druck, der ganz sicher für einen Abdruck auf der Gummierung sorgen musste.
Der Bordcomputer wies mir den Weg; die Navigationssoftware blendete allerhand Pfeile auf der Frontscheibe ein – die Sprache, die damit einherging, das Quäken der Computerstimme hatte ich vorsorglich deaktiviert. Ich brauchte weder das eine noch das andere, wusste ich doch, wo mein Ziel lag.
Über der Stadt war alles ruhig. Nur wenig Gegenverkehr machte sich links und rechts von mir breit, sodass ich gut und schnell vorankam. Ich flog die übliche Route, um in den C-Sektor zu gelangen. Dort lag verlassen, aber im Herzen Neu New Yorks gelegen, das Bahndepot.
Als ich die Grenze nach C überflogen hatte, wies die Elektronik mich darauf hin, dass ich in einem neuen Bereich angelangt war. Es war immer dieselbe Leier: Sobald man den Sektor oder die Ebene wechselte, reagierte der Cloud auf die Veränderung und quittierte dies mit einem volltönenden, manchmal nervtötenden Geräusch. Alles war zur Gänze durchchoreografiert, um einem zu helfen – um einem das Denken abzunehmen. Für den Piloten in seiner Luftschleuder diente es als Hinweis und Warnung zugleich: Achtung, hier herrschen andere Gesetze. Achte auf dich und deinen Untersatz.
Die Neonlichter und der Schein der Lampen reduzierte sich drastisch, je näher ich dem Rand Neu New Yorks kam. Was sich unter mir ausbreitete, war ein Vorgeschmack auf die Hölle, oder, wie wir es nannten, den Untergrund, der nur eine Etage tiefer unter dem Gestein der Oberschicht lag. Eines hatten Oberwelt und Untergrund gemeinsam: Beiden machte das Fernbleiben der Sonne zu schaffen, die gegen die undurchdringliche Wolkendecke keinen Stich schaffte.
Den C-Sektor dominierte einstmals geschäftige, aber jetzt bloß noch brachliegende Industrie. Fabriken, bereits nicht mehr in Betrieb, schlummerten kollektiv im Nebel. An jeder Kreuzung sah man halb verfallene Gebäude und Bürokomplexe, wovon nur noch wenige von Menschen bewohnt waren. Ich drückte einige Knöpfe auf der Mittelkonsole und bedeutete dem Cloud, sich in den Sinkflug zu begeben.
Das Bahndepot tauchte blass schimmernd vor mir auf. Die Züge, oder das, was noch von ihnen übrig war, funkelten in der Stille. Ich parkte vor dem Eingang zum Depot. Einen Moment dachte ich daran, meine Pistole ins Handschuhfach zu legen. Mein Verstand riet mir jedoch dazu, sie vorsorglich mitzunehmen. Ich wusste nicht, welche Art Räuber mich da draußen erwartete. Ich hoffte auf klein und flauschig, rechnete aber unterbewusst mit groß und gefährlich und damit einhergehend mit Herzschmerz statt einer unbändigen Freude als Teil des Wiedersehens. Seit der Botschaft dachte ich unentwegt an meinen kleinen Freund. Wer, wenn nicht Quentin, konnte sie mir geschickt haben? Sollte ich es für das halten, was es vermutlich nicht war: Einen Hinweis auf ein neues Experiment meines Ziehvaters, ausgeheckt im stillen Kämmerlein, um der Überraschung die Würze zu geben? Ich wusste es nicht. Aber am Ende triumphierten die grauen Zellen über den Rest. Ich prüfte die Pistole ein letztes Mal und steckte sie dann zurück ins Holster.
Als die Fahrertür aufschwang, war mir erst, als wäre sie nicht geöffnet wurden. An der anhaltenden Stille hatte sich nichts geändert. Dies, so sagte ich mir, hatte seine Gründe: Nirgendwo in der Oberwelt war es so ruhig wie tief in den Eingeweiden von Sektor C. Hier konnte man noch einsam sein.
Behutsam betrat ich das Depot, vorbei an einem Schild mit der Aufschrift Trains Ldt. Die Farbe der Buchstaben blätterte mit jedem Windzug mehr und mehr ab, sodass teilweise nur noch ein schwarzer Rand übrig blieb. Allem hier setzte die Zukunft zu; einer Zukunft, in der für Nostalgie außerhalb der Häuser und Wohnungen kein Platz mehr war.
Jeder kannte die Geschichte des Bahndepots, war mit ihr vertraut. Vor zwanzig Jahren fuhren vom Depot aus noch Züge quer durch Neu New York und in die Bezirke außerhalb. Hauptsächlich zu dem Zweck, Waren wie Klamotten oder Arzneien von A nach B zu befördern. Das alles geschah im Namen der Exekutive. Trains Ldt. war ein rein verstaatlichtes Unternehmen und lebte, wie man zu sagen pflegte, von der Hand in den Mund. Anfangs hielt es die Exekutive für kostengünstiger, Waren auf Schienen statt auf dem Luftweg zu transportieren. Doch die stetige Technologisierung machte auch vor den Zügen nicht halt. Bald schon sattelte man auf Luftschiffe um, die, effizient hoch hinaus kommend, als riesige Wolken am Himmel schwebten. Nur wenige Züge konnten dem Zerfall entgehen, diejenigen, die für den Personenverkehr unerlässlich waren und auf das Depot nicht mehr angewiesen waren. In meiner Wohnung stand die Miniaturausgabe eines dieser Kolosse, die ohne Unterbrechung 24 Stunden am Stück durch die Stadt und das angrenzende Umland fuhren.
Ich blickte mich um auf der Suche nach irgendetwas oder irgendjemanden. Das Depot war aufgegeben, ich wusste jedoch, dass es nicht verlassen war. Menschen nutzten die Fläche weiterhin, wenn auch nur äußerst selten zur Arbeit. Als im Untergrund der Platz zum Leben rar wurde, verschlug es viele Bewohner an die Oberfläche. Das Depot wurde ein Zufluchtsort für die Zugezogenen. Die stillgelegten Züge und ausrangierten Waggons wurden zu Schlafstätten und Wohnheimen umfunktioniert. Für die modernen Nomaden, die sich an diesem ihnen so neuen Standort niederließen, hatte es nicht besser laufen können.
Wenn da nicht die Exekutive gewesen wäre. Diese sah es nicht gerne, dass immer mehr Menschen, ob legal oder illegal, in die Oberwelt strömten. Recht bald wurde dem in Form der Einheit ein Riegel vorgeschoben. Sie sollte für Ordnung sorgen, wo diese bereits verloren geglaubt schien. Das Depot wurde geräumt. Familien verloren ihr Zuhause und landeten sprichwörtlich in der Gosse. Ich stand damals auf der Seite des Räumtrupps, auf der Seite der Einheit und gehörte zu den Gewinnern. Es war einer meiner ersten Einsätze für die Einheit. Jung und naiv, wie ich war, hätte ich alles getan, ohne mir zuvor darüber den Kopf zu zerbrechen. Heute wusste ich, dass es keinen Grund gab, die Menschen von hier zu vertreiben; heute zählte ich mich nicht mehr zu den Gewinnern. Ich zählte mich zu den Verlierern.
Das Heute war die Vergangenheit in der Gegenwart. Was hatte überwogen nach all der Zeit: Gewinner oder Verlierer?
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