Allein die Zugbrücke vor dem Schlosstor hatte eine größere Fläche als die Wohnküche im Haus ihres Vaters. Üppigkeit und Fülle, die sie umgaben, sobald sie in den Schlosshof einritten, bezauberten und erdrückten Azur zugleich. Sofort kamen Diener herbeigeeilt und umringten sie. General Balfor und sein Kumpan ließen sich schwungvoll aus dem Sattel gleiten und warfen den Stalljungen die Zügel ihrer Rösser zu. Ohne ein Wort des Dankes. Der General winkte Azur, die vorsichtig von Doodles Rücken stieg und den Burschen, der ihr die Zügel des Ponys abnahm, mit einem Lächeln bedachte. Er tat, als habe er es nicht wahrgenommen. Stattdessen schlug er mit einer leichten Verbeugung den Blick nieder und wurde vor Scham purpurrot an den Ohren.
In Cian hätte ein Riese hausen können, ohne sich den Kopf an der Decke zu stoßen. Azur musste immer wieder ihre Schritte beschleunigen, um Balfor nicht in den ausladenden Gewölbegängen zu verlieren. Er ging eilig voran, bis sie zu einer von Wachen geschützten Tür kamen. „Der König wünscht, dich noch heute zu empfangen.“, sagte er, ohne sie dabei anzublicken.
Ein Wächter klopfte an die Tür, woraufhin eine ernste, hagere Frau erschien, die Balfor verkniffen zunickte und Azur mit einem „Komm.“ bei der Schulter fasste. Sie wandte sich noch einmal um, doch der General hielt den Kopf gesenkt und die Frau beeilte sich, die Tür hinter ihr zu schließen.
„Man nennt mich Dame Telda und ich habe den Auftrag, dich für die Audienz bei König Darius vorzubereiten. Zieh dich aus.“, wies sie Azur an. „Du wirst ein Bad nehmen und danach neue Kleider erhalten.“
Als sie gut eine halbe Stunde später aus dem Zuber stieg, mit edlen Ölen und duftendem Rosenwasser gepflegt, lag tatsächlich eine weiße Robe bereit, die mit Silberfäden durchwirkt war. Nie zuvor hatte Azur so edle Stoffe auf der Haut gespürt. Der Saum reichte bis zum Boden, wo der Stoff sich kräuselte wie mondbeschienene Gischt. Obwohl der prunkvoll verzierte Spiegel Azurs Bild deutlich wiedergab, erkannte sie sich beinahe nicht. Der Anblick ihrer eigenen Gestalt war ihr fremd, als habe sie die Kleider gestohlen, die sie trug.
Eine Dienerin, die einen vergoldeten Kamm hielt, trat an sie heran. Ihre blasse, kleine Hand zögerte, bevor sie das blaue Haar berührte und mit fahrigen Fingern zu kämmen begann. Dame Telda beobachtete sie. Im Spiegel konnte Azur sehen, wie die Augen des blonden Mädchens umherirrten. Sie wagte weder Azur noch ihre Vorgesetzte anzublicken. Doch schien es ihr ebenso unmöglich, sich auf das blaue Haar zu konzentrieren. Mehrere Male zog sie so ungeschickt an einer Strähne, dass es schmerzhaft ziepte. Sich ihres eigenen Fehlers bewusst, wurde sie immer gespannter und fahriger, weswegen Azur mindestens ebenso erleichtert aufatmete wie sie, als die Prozedur endlich vorüber war.
Azur musste in weiße Schuhe steigen, die an der Ferse einen Absatz hatten. So etwas Seltsames hatte sie bisher noch nie gesehen. Wie sollte es möglich sein, darin zu laufen?
„Du wirst ein wenig üben müssen.“, sagte Dame Telda. „Absatzschuhe sind am Hof der letzte Schrei. Du wirst wie ein Edelfräulein aussehen, wenn du erst einmal darin laufen kannst.“
Und so stakste und stolperte Azur unter Dame Teldas Anleitung im Zimmer auf und ab, bis ihr die Füße wehtaten. Schau geradeaus, nicht auf deine Füße, halt den Rücken gerade, spann die Schultern an, mach kleine Schritte, sachte, die Arme bleiben locker, Hüften aufrecht, du sollst nicht auf die Füße gucken. Wer hatte nur diese schrecklichen Schuhe erfunden? Auf dem Feld wäre sie damit in der Erde stecken geblieben. Und die harten Böden des Schlosses sorgten dafür, dass Zehen und Fußgelenke bei jedem Schritt schmerzten. Wenn man als Edelfräulein andauernd Absätze tragen musste, wollte sie doch lieber ein einfaches Bauernmädchen bleiben, das ungestraft barfuß laufen durfte, wann es ihm passte.
Auf einmal klopfte es. Dame Telda streckte den Kopf aus der Tür und wechselte ein paar Worte, während Azur dankbar ihre geschundenen Füße massierte. „Es ist so weit.“, verkündete Dame Telda, als sie ihre Unterredung beendet hatte. „König Darius ist nun bereit, dich zu empfangen.“
Kapitel 3
Sie führte Azur abermals durch die Gänge zu einer lichtdurchfluteten Halle, deren Türflügel offenstanden und den Blick auf eine Tafel freigaben. Beide Männer, die sich an ihren Enden gegenübersaßen, mussten die Stimme erheben, um sich miteinander zu unterhalten. Azur erkannte König Darius an seiner strahlend polierten goldenen Rüstung. Er wandte sich ihr zu und das Gespräch verstummte.
„Geh hinein.“, flüsterte Dame Telda „und vergiss nicht, dich so zu verneigen, wie wir es geübt haben.“
Mit kleinen Schritten und pochendem Herzen durchquerte sie den Saal, der noch größer war als alle Zimmer im Haus ihres Vaters zusammen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie endlich vor der Tafel stand, im Geiste Sol dafür dankend, dass sie noch nicht hingefallen war.
„Hier bin ich, Mädchen.“, sagte Darius mit fester Stimme und sie passierte die letzten Meter bis zu seinem Thron, oder wie auch immer das Kunstwerk bezeichnet wurde, auf dem er saß. Ihre Augen suchten sich einen festen Punkt zwischen seinen Füßen, an dem sie sich festhalten konnten, damit sie nicht umfiel, während sie einen tiefen Knicks machte. Etliche Sekunden verharrte sie in dieser Haltung und wünschte sich, der König würde ihr erlauben, sich zu erheben. Lange würde sie das Gleichgewicht nicht mehr halten können. Hoffentlich bemerkte er nicht, wie peinlich sie schwankte.
Doch, er musste es gesehen haben, denn er lachte. Und was für ein Lachen er hatte! Es kam aus den Tiefen seines gewaltigen Bauches hervorgesprudelt, offen und ohne eine Spur von Spott. „Sieh nur, Alec da steht sie. Das Mädchen mit dem blauen Haupte. Leibhaftig und schön.“
Azur errötete leicht.
„Erhebe dich und nenne mir deinen Namen.“ Er nahm einen Schluck aus seinem vergoldeten Becher. Überhaupt war alles Mögliche und Unmögliche in diesem Schloss aus Gold, die Verehrung für das Edelmetall, dessen Wert und Farbe die Sonne symbolisierte, kannte keine Grenzen. Vorsichtig richtete Azur sich auf und wagte es, ihm ins Gesicht zu sehen. Wohlstand zeichnete sich in seinen runden, gemütlichen Zügen ab. „Warum sagst du nichts? Hast du auf dem Weg hierher deine Stimme verloren?“
Sie schüttelte leicht den Kopf.
„Na dann sag mir, wie du heißt und ob du eine gute Reise hattest.“
Unsicher deutete Azur auf ihren Hals.
„Was ist damit? Rede endlich oder bist du stumm?“
Das mochte eine rhetorische Frage gewesen sein, doch Azur war dankbar, dass er sie gestellt hatte. Sie nickte und senkte schuldbewusst den Blick, obwohl es nicht ihr Vergehen war. Auch wenn sie wollte, konnte sie dem König ihren Namen nicht nennen.
Darius` Miene wurde ernst. „Beim Sonnengott, das hat uns gerade noch gefehlt.“
„Vater, du solltest ihr gleich von dem Vorfall in Ghabran erzählen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“, meldete sich Prinz Alec, der Sohn des Königs, zu Wort. Azur hatte bereits des Öfteren von ihm gehört. Sämtliche Frauen Seynakos, ungeachtet ihres Alters und gesellschaftlichen Standes, schwärmten für den Prinzen. Zwar hatten nur wenige, die sie kannte, ihn je zu Gesicht bekommen, doch Geschichten verbreiten sich schnell. Erst recht, wenn darin ein gutaussehender Königssohn die Hauptrolle spielte. Vielleicht lagen das lebhafte Interesse und die große Sympathie, die das Volk für Prinz Alec hegte, an dem Umstand, dass er der einzige Nachfahre des Königs war, denn die Königin war früh gestorben.
Ebenso wie Azurs Mutter.
„Das hier ist nicht der richtige Ort.“, sagte Darius und grübelte kurz vor sich hin. Schließlich erhob er sich, wobei man das Gewicht seiner Rüstung erahnen konnte. „Ich fürchte, ich muss ohne Umschweife zum unangenehmen Teil unseres Treffens übergehen. Es mag noch nicht viel davon durch die Schlossmauern nach außen gedrungen sein, aber in letzter Zeit wurde mir Besorgniserregendes zugetragen. Meine Lage ist schwierig.“ Er mühte sich, die richtigen Worte zu finden. „Ich bin außerordentlich um die Sicherheit meines Landes besorgt. Sollte die Prophezeiung sich tatsächlich bewahrheiten, so ist es höchste Zeit, dich in die Geschehnisse einzuweihen, die sich kürzlich an der Nordgrenze abgespielt haben. Wenn du uns folgen möchtest.“ Er machte eine Geste, mit der er auch Alec aufforderte, ihm zu folgen.
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