„Echt?“ Rotkäppchen blickte sie misstrauisch, aber dennoch neugierig an. Dann sah sie hinauf zur Sonne. Sie war schon ein bisschen weitergewandert. „Schade, ich muss los.“
„Wohin musst du?“ fragte Mona.
Rotkäppchen deutete auf ihren Korb. „Ich muss das Zeug hier zu meiner Oma bringen. Die ist krank.“
„Aber der Wolf!“ rief Mona aufgeregt.
„Ach, den ollen Wolf“, sagte Rotkäppchen. „Den habe ich eben getroffen. Der hat mir vorgeschlagen, dass ich Blumen für Oma pflücke. Wenn ich so drüber nachdenke, ist er ganz nett, der Wolf.“
„Aber—" wollte Mona protestieren, doch Rotkäppchen unterbrach sie.
„Lass mich nur machen, ich komme mit dem Wolf schon klar. Wie heißt du eigentlich?“
„Mona“, erwiderte Mona.
„Auch ein merkwürdiger Name“, stellte Rotkäppchen fest. „Vielleicht treffen wir uns mal wieder. Komm doch mal wieder vorbei.“
„Sicher!“ sagte Mona und sah Rotkäppchen nach, wie sie mit vergnügten Hüpfern über die Lichtung sprang und schließlich hinter einer kleinen Kuppe verschwand.
Mona war fassungslos. War sie eben tatsächlich Rotkäppchen begegnet? Dem Rotkäppchen? Natürlich lag es nah, dass sich das Mädchen einfach verkleidet hatte und hier im Wald spielte. Andererseits war es sehr merkwürdig, dass der Wald hier so frühlingshaft war, während eben noch der Herbst um Mona herum gewütet hatte.
Mona drehte sich um. Das Tor, durch das sie gekommen war, lag ein paar Schritte entfernt. Wenn sie nun wieder durch das Tor treten würde, würde sie dann zurück im kargen Herbstwald bei ihrem neuen Zuhause landen?
Als Mona sich den Weg durch das ineinander verwucherte Geäst und Blattwerk bahnte, spürte sie, wie sie die Sonne hinter sich ließ. Mona verließ das Tor und fand sich im kahlen, trostlosen Wald wieder, aus dem sie gekommen war. Sie spürte ein leichtes Frösteln und zog rasch ihre Jacke wieder an.
In der Ferne sah sie den Zaun und dahinter die Schemen der Villa. Mona begann zu laufen.
3. Kapitel „Märchen lesen“
Als Mona ein paar Minuten später durch die Eingangstür in die Villa trat, waren Monas Eltern noch immer damit beschäftigt, den Garderobenschrank aufzubauen.
„Schon wieder im Haus?“ fragte Papa überrascht.
Statt einer Antwort sagte Mona: „Sehr weit seid ihr ja noch nicht gekommen.“
Erstaunt blickten Mama und Papa sich an. „Na, in den paar Minuten können wir auch keine Wunder vollbringen“, sagte Mama.
„In den paar Minuten?“ wiederholte Mona. „Ich war doch mindestens eine dreiviertel Stunde fort.“
Wieder schauten sich ihre Eltern verdutzt an. Papa warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Eine dreiviertel Stunde? Zehn Minuten, länger warst du nicht aus dem Haus.“
„Zehn Minuten?“ wiederholte Mona ungläubig. „Aber ich war doch—" Sie stockte. Sicherlich würden Mama und Papa ihr kein Wort davon glauben, dass sie dieses merkwürdige Tor gefunden hatte. Und schon gar nicht, dass sie Rotkäppchen getroffen hatte. Aber dass sie nur zehn Minuten lang weg gewesen sein sollte? Konnte es sein, dass Mona sich so in ihrem Zeitgefühl irrte?
„Aber du warst was?“ fragte Mama.
„Nur im Garten“, erwiderte Mona hastig. „Ich gehe jetzt meine Sachen auspacken.“
„Mach das“, sagte Mama belustigt und wandte sich mit Papa wieder dem Garderobenschrank zu.
Mona entschied sich als erstes, ihre Bücher in das große Bücherregal zu räumen. Sie hatte einen ganzen Karton, der so schwer war, dass Mona ihn nicht alleine heben konnte. Aber sie wollte ja ohnehin alle Bücher einzeln in das Regal sortieren. Was war die beste Art, die Bücher zu ordnen? Nach Größe? Nach Farbe? Oder alphabetisch?
Mona fand die Reihenfolge nach Größe am besten – so würde es später schön ordentlich aussehen. Das größte Buch, das sie besaß, war der Weltatlas – der kam als erstes ganz links in das Regal. Aber bei den anderen Büchern war es schon schwieriger. Also packte Mona erst einmal alle Bücher aus der Kiste, und legte sie auf den Fußboden.
Plötzlich fiel ihr ein Buch ins Auge: Es war das Märchenbuch. Auf dem matten Einband war ein Frosch mit einer Krone auf dem Kopf zu sehen. Schlagartig fiel ihr ihre Begegnung mit Rotkäppchen wieder ein. Mona erinnerte sich gar nicht, ob das „Rotkäppchen“-Märchen in dem alten Märchenbuch stand. Sie schlug das Buch auf und schaute im Inhaltsverzeichnis nach. Tatsächlich, unter „R“ gab es zwischen „Rapunzel“ und „Rumpelstilzchen“ auch das „Rotkäppchen“. Mona blätterte und suchte die richtige Seite raus. Dann begann sie, das Märchen zu lesen.
Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Samt, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das „Rotkäppchen“. Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm: „Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinaus kommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom rechten Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiss nicht guten Morgen zu sagen und guck nicht erst in alle Ecken herum.“
„Ich will schon alles gut machen“ sagte Rotkäppchen zur Mutter, und gab ihr die Hand darauf. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht was das für ein böses Tier war und fürchtete sich nicht vor ihm. „Guten Tag, Rotkäppchen,“ sprach er. „Schönen Dank, Wolf.“ „Wo hinaus so früh, Rotkäppchen?“ „Zur Großmutter.“ „Was trägst du in deinem Korb?“ „Kuchen und Wein: gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke und schwache Großmutter etwas zu gut tun, und sich damit stärken.“ „Rotkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?“ „Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nusshecken, das wirst du ja wissen“ sagte Rotkäppchen. Der Wolf dachte bei sich „das junge zarte Ding, das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte: du musst es listig anfangen, damit du beide erschnappst.“ Da ging er ein Weilchen neben Rotkäppchen her, dann sprach er „Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die rings umher stehen, warum guckst du dich nicht um? ich glaube du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig draußen in dem Wald.“
Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten, und alles voll schöner Blumen stand, dachte es „wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen; es ist so früh am Tag, dass ich doch zu rechter Zeit ankomme,“ lief vom Wege ab in den Wald hinein und suchte Blumen. Und wenn es eine gebrochen hatte, meinte es, weiter hinaus stände eine schönere, und lief danach, und geriet immer tiefer in den Wald hinein. Der Wolf aber ging geradeswegs nach dem Haus der Großmutter, und klopfte an die Türe. „Wer ist draußen?“ „Rotkäppchen, das bringt Kuchen und Wein, mach auf.“ „Drück nur auf die Klinke,“ rief die Großmutter, „ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen.“ Der Wolf drückte auf die Klinke, die Türe sprang auf und er ging, ohne ein Wort zu sprechen, gerade zum Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann tat er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge vor.
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