Oheim Dietrich grüßte die scheuen Gestalten, um ihnen die Furcht zu nehmen.
„Geht Eurem Tagewerk nach. Wir kommen in guter Absicht“, rief er ihnen zu.
Der Ort bestand aus einer Straße, die entlang der Ruhr verlief und einem Weg aus Richtung des Nierenhofes, über den sie gekommen waren, der auf eben diese größere Straße traf. Der Verbindungspunkt der beiden Straßen bildete so etwas wie den Dorfplatz, denn in dem Dreieck stand eine Eiche, die den Dorfkern markierte. Der Weg entlang der Ruhr war die Durchgangsstraße, die zum Fährhof über die Ruhr führte. Sie ritten um den Fuß der Burgberges in Richtung des Fährhofes. Auf dieser Seite befand sich der gewundene Aufstieg zur Burg. Im Vorbeireiten heftete Friedrich seine Augen an den vernachlässigten Übergang über den breiten Strom. Die Fähre war nicht mehr als ein ärmliches Floß und der Fährhofe eine morsche Hütte. Warum sind die Fähre und der Hof derart kümmerlich? wunderte sich Friedrich.
Gräfin Mathilde kniete in der kleinen Burgkapelle und blickte in Richtung des Lichtes, welches durch den ochsenblutrot getünchten romanischen Fensterbogen eine gewisse Wärme erhielt. Noch zeichnete das spärliche Astwerk des Buchenwaldes, der den Burgberg hinauf wuchs, ein filigranes dem Himmel zustrebendes Liniengewirr auf den fahlen Pergamenthimmel. Sie wusste nicht, was mehr schmerzte, ihr Nacken und die Schultern oder ihr von Gedanken gequältes Haupt. Während sie ihren Blick zum Deckengewölbe hob, fasste sie sich an die Schulter und begann sie zu kneten. Sie war der Beileidsbekundungen der Ministerialen müde. Sie schütteten ihre eigene Trauer zu. Dem gemeinen Volk hatte sie den Zugang zur Burg bereits untersagen lassen. Die Untertanen kamen doch nur um einen ledernen Gürtel oder einen samtenen Umhang zu ergattern. In dieser Welt gab es keine echte Anteilnahme. Jeder war auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Ihr Kopf war leer und doch schmerzten ihre Schläfen, nach all den Tagen der Trauer und Verunsicherung.
Ihre Augen folgten den zierlichen tiefgrünen Linien, um die sich Blattwerk im Wechselspiel mit kleinen Blüten rankte. Ja, auch draußen erwacht die Welt, dachte sie. Aber wie soll ich dieses Jahr nur überstehen?
Der Tote, der den Altarraum der Kapelle füllte, war ihr fremd geworden. Die Haut in seinem Gesicht war grau und vom Salz gedörrt, wie ein Stockfisch. Dabei lag dort der Mann mit dem sie fünf Kinder hatte. Doch Arnold hatte sie verlassen!
„Herrin“, einer der Eichenflügel der Kapellenpforte hatte sich einen Spalt weit geöffnet und Isabella die Kammerfrau der Gräfin wisperte vorsichtig durch den Spalt, „Reiter kommen. Es könnte Euer Bruder mit den Jungen sein.“
Von draußen drangen Rufe an ihr Ohr. Mathilde straffte sich. Friedrich, endlich. Du wirst mir beistehen, mir die Bürde von den Schultern nehmen.
„Einen Augenblick noch, Isabella. Ich komme.“
Nimm dich zusammen, Mathilde. Nimm dich zusammen, wie du es immer gemacht hast. Eilig wechselte sie die Position und kniete vor dem Aufgebarten nieder. Flüchtig bete sie das Vaterunser herunter. Dann stand sie auf. Zum Abschied lies sie einen Blick über die sterblichen Überreste ihres Mannes schweifen. Dann verließ sie das Gotteshaus. Die Wachen hatten auf den Wehrgängen Aufstellung genommen und beobachteten die Reiter. Unruhe kam auf dem Wehrgang auf. Offensichtlich hatten die Wachen die Ankömmlinge erkannt. Als sie durch das hölzerne Torhaus in die Unterburg einritten, hatten sich die Wachsoldaten in einer Mischung aus Neugierde und grüßendem Anstand zu einem Spalier aufgebaut. Wild aussehende Kriegsknechte, schmutzige Laufburschen und füllige Mägde mischten sich dahinter zu einem bunten Gewirr. Zur linken Hand sah Friedrich die Zehntscheuer. Durch die geöffneten Türen und Fenster zwängten sich Menschen und riefen und winkten. Freuten sie sich etwa oder war es die schiere Schaulust nach einem öden Winter? Friedrich blickte nach rechts und sah Dietrich. Dieser schien ebenso ungläubig wie er selbst umher zu blicken. Über Dietrichs Profil hinweg sah er den Wachturm mit den Unterkünften der Mannschaften. Von den hölzernen Wehrgängen winkten, riefen und glotzen die, die keinen Blick aus dem Hof zu erheischen glaubten. Gestiefelte, kettenbewährte, barfüssige oder mit Holzpantinen gesegnete Füße zertraten den Boden im halb gefrorenen Schlamm der Unterburg. Lederne Hauben oder solche aus einfachem Leinen wippten auf und ab, wohl, dass ihre Träger einen Blick auf die jungen Herren von Altena zu Isenberghe erhaschten. Schließlich war irgendeiner der Reiter ihr neuer Herr. Keines der Gesichter, in das Friedrich blickte, kam ihm bekannt vor. Er fühlte sich verloren im Angesicht der gaffenden Menge. Furcht stieg in ihm auf. Oheim Dietrich hingegen schien das Gesinde völlig ungerührt zu lassen. Unsicher, als wünschte er sich dort hin, richtete Friedrich seinen Blick dem weißen Palas, unter dem ein Torbogen die Verbindung zwischen Unter- und Oberburg bildete, entgegen. Endlich hatten sie das Spalier verlassen und den Torbogen erreicht. Friedrich und auch Dietrich atmeten auf. Sie schauten sich an und lächelten einander erleichtert an. Im Hof der Oberburg waren ebenfalls Menschen, wenn auch wenige, versammelt. Endlich erkannte er die Gesichter. Da waren Aelred, der Knappe seines Vaters, Gundalf und Gerulf, die Zwillinge, Wilbold und Ortliv, der Augen wie ein Falke besaß. Daran erinnerte er sich, seit ihn der Vater, kurz bevor er nach Sankt Gereon gekommen war, mit auf die Jagd genommen hatte. Das einzige Mal und doch eine feste Größe in der Erinnerung an die Zeit mit seinem Vater. „Friedrich,… Dietrich“, hörten sie Kinderstimmen rufen, und schon hängten sich Kinderhände an die Steigbügel und Stiefel. Es waren Wilhelm und Gottfried, ihre kleinen Brüder, die versuchten, sie vom Pferde zu zerren. Dietrich sprang vom Pferd. „Ihr beiden!“ Vor Freude umarmten sich die fünf Brüder. Wo ist die Mutter? , dachte Friedrich. Warum ist sie nicht da? Gerade als er sich umschauen wollte, öffnete sich die Pforte zu Freitreppe des Palas. Er erkannte Isabella die Zofe seiner Mutter. Den Moment, den ein Pfau benötigte sein Rad zu schlagen, später, trat seine Mutter ins Freie und verweilte eine kurze Weile auf dem kleinen Plateau, um den Hof mit prüfendem Blick abzusuchen. Seine Mutter war eine große, stämmige Frau mit einem hübschen Gesicht. Als sie die Jungen erblickte, meinte er ein Lächeln über ihren Mund und ihre Augen huschen zu sehen. In würdiger Haltung stieg sie durch das Gehäuse der Freitreppe herab. Sie hatte die Vierzig noch nicht erreicht – doch war sie jetzt älter, als er sie von vor zwei Jahren in seiner Erinnerung hatte. Zwei Jahre war ich nicht mehr hier. Mathilde betrat den Burghof und näherte sich ihrem Sohn. Friedrich erschrak. Ihr blondbraunes, dichtes Haar war matter geworden und von einzelnen grauen Haaren durchzogen. Die Trauer und die Not hatten tiefe Gräben und schwarze Augenringe in ihr Antlitz gezeichnet. Aber das sah nur der, der sie genau anschaute. Doch diesen Blick gewährte sie nur wenigen, die sie ihrerseits nicht durch einen durchdringenden Blick in ihre geziemlichen Schranken wies. Immer schon, so lange sich Friedrich seiner Mutter erinnern konnte, ermahnte sie ihre Familie und sich selbst am meisten, Haltung zu bewahren. So kannte Friedrich sie. So hatte sie diesen zurückhaltenden Zug in ihre Familie eingepflanzt und so war er, Friedrich, nun selbst voll dieser äußeren Beherrschtheit, während er den inneren Sturm kaum im Zaume halten konnte. Dies war es, was er oft genug in sich verspürte, wenn er zurück schreckte, obwohl er voran gehen wollte. Die Kirchenjahre hatten dem mütterlichen Erbe seiner ersten sieben Lebensjahre noch das ihre hinzugefügt. Ahnungsvoll bemerkte Mathilde das Zögern ihres ältesten Sohnes und mutmaßte, dass es wohl den von ihr gesäten Gedankenschatten, geschuldet war. Ihre Strenge hielt sie für angebracht, so wusste sie nicht, dass eine liebende Hand eine Änderung im Wesen Friedrichs hätte hervorbringen können. Dabei war er ihr erster Sohn, ihr erstes Kind mit Arnold überhaupt. Everhard, der älteste Sohn ihres Mannes war nicht ihr Sohn gewesen. Und, wäre Friedrich vor zwei Jahren an seiner Stelle gestorben, sie hätte sich das Leben genommen. In ihn, Friedrich, legte sie all ihre Hoffnung und Wünsche. Ihn hatte sie täglich in ihre Gebete eingeschlossen. Für ihn hatte sie Gott beschworen, dass er es zu hohen kirchlichen Würden bringen sollte. Umso stärker hatte sie ihre Not verbergen müssen, als Friedrich nach Everhards Tod aus der Kirche ausschied und in den Waffendienst ihres Bruders aufgenommen worden war. Sie hatte die männlichen Ränkespiele satt. Sie hasste das Waffengeklirre, das derbe Schuhwerk, den Krieg, den Geruch von Blut und Eisen und die ungelenken Bewegungen der verkrüppelten Heimkehrer, die fortan die Vergänglichkeit ins Tagesbild einpflanzten. Die Männer, Väter und Brüder, die nie heimkehrten, und die im Laufe ihres Lebens wie eine schwere Last die Frauen und Kinder drückten, ohne dass sie es unter den Anstrengungen des Tages merkten. Auch in ihre Familie, in die sie ohne Ahnung eingeheiratet hatte, hatten die Kriege und Kreuzzüge bereits einen traurigen Zug geprägt. Der Tod ihres Mannes konnte sie keines Besseren belehren: War es nicht der Krieg gegen die Ketzer im Süden, der ihr nun den Mann genommen hatte? Ein dunkler Schatten legte sich wieder über ihre Miene. Als erster bemerkte Dietrich das Zögern der beiden und nutzte die Gelegenheit auf seine Mutter zuzustürmen. Wie ein Hungriger sich auf einen Schinken stürzte, umklammerte er den Mutterschoß. Doch anstatt den Jungen willkommen zu heißen, wie es eine Mutter tut, schloss sie kurz die Hände um Dietrichs Kopf, um ihn im nächsten Moment an den Schultern zu fassen und ihn mit den traurig klingenden Worten, „sei gegrüßt, mein kleiner Dietrich“, auf Distanz zu bringen. Wenigstens strich sie ihm über das Haar, als Dietrich sich verstört abwendete. Die Begrüßung hatte er sich anders ausgemalt in den Tagen der Reise. „Seid gegrüßt, Mutter!“ Friedrich, der vom Pferd gestiegen war, sah sich genötigt den peinlichen Moment der Stille zu füllen. Seine Mutter kam auf ihn zu und drückte ihn an sich. Doch er konnte die Umarmung nicht erwidern. Er wollte seinem Vorbehalt gegen die Mutter gerade neue Nahrung geben, doch bemerkte er, dass Mathilde Halt bei ihm suchte. Wie selbstsüchtig ihn die Schatten seiner Mutter doch machten. Der Vater, ihr Mann, war tot. Sie hatte wahrlich einen Grund Halt zu suchen. Der Vorwurf gegen sich selbst, ließ Friedrich dann doch seine Arme heben und seiner Mutter Halt geben.
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