Am nächsten Tag schleppte ich ihn mit in die Schule (seine Idee). In der ersten Stunde hatte ich Schmetter. Das war spaßig, weil Schmetter nicht verstand, was dieser schräge Typ in bestickter Hippiebluse in seinem Unterricht wollte. Außerdem konnte er ihn überhaupt nicht ausstehen, vielleicht noch weniger als mich. Er fragte ihn etwas über Mozarts Zauberflöte. Bernard flüsterte eine patzige Antwort, die Schmetter zum Glück akustisch nicht richtig mitkriegte.
In der Pause zischte Bernard los, weil er auf Penne doch keinen Bock hatte.
Um zwei Uhr nachts klopfte es an unserer Haustür. Es war Bernard - total zugedröhnt. Wortlos sackte er immer wieder in sich zusammen. Ich kriegte ihn irgendwie in mein Zimmer, ohne das Muttern aufwachte.
„Alles klar? Was ist denn mit dir los?“ fragte ich ihn. Er holte kleine Glasampullen aus seiner Jacke und ließ sie auf den Teppich fallen.
„Morphium. Hab‘ ich im ... Krankenhaus geklaut“, sagte er. Die Augen drehten sich nach oben. „War nicht einfach ...“, ergänzte er Minuten später. Ich ließ ihn auf den Matratzen liegen und deckte ihn mit einer Decke zu.
Noch bevor die Sonne aufging, schlich er sich wieder raus.
Erst zwei Nächte später tauchte er wieder auf - wieder völlig zugefixt. Und am Morgen war er wieder verschwunden.
Das wiederholte sich eine Weile, bis ich zu ihm sagte: „Es tut mir echt leid, aber ich denke, du musst dir was anderes zum Pofen suchen. Muttern ist echt genervt.“ Das stimmte zwar gar nicht, aber ich hatte keine Lust in harte Drogensülze verwickelt zu werden.
„Kein Problem“, flüsterte er, „ich hab‘ eine Wohnung in Aussicht. Übrigens gleich hier in der Rimsockstraße“, antwortete er.
Ungläubig nickte ich.
An einem Nachmittag, ich hatte, wie fast jeden Nachmittag, autistisch mit einer Feder schwarze Tuschelinien auf Papier gekritzelt und die Felder mit Buntstift gefüllt und dann das ‚fertige Bild‘ mit Stecknadeln an die Raufasertapete gepinnt, holte er seine Reisetasche ab.
„Übriges: Vielen Dank für alles. Wirklich, meine ich ernst“, hauchte er, „ich wohne jetzt Rimsockstraße 16. Komm doch mal rum.“
Machte ich. Nummer 16 war das vorletzte Haus, gleich neben der katholischen Mädchenschule, die mit Morgengottesdienst und solchen Schikanen auffiel.
Schon im Hausflur roch es intensiv nach Haschisch. Bernard wohnte im ersten Stock. Im Korridor sprang mich ein junger Schäferhund an. Der Haschischgeruch in der Wohnung war überwältigend.
„Du hast jetzt einen Hund?“ fragte ich.
„Ja, immer wenn ich mir zu viel drücke und auf der Straße zusammenbreche, bewacht er mich, bis ich wieder zu mir komme.“
„Das ist ja Wahnsinn“, sagte ich und versuchte mir vorzustellen, wie Bernard stundenlang in der erzkonservativen Südstadt auf der Straße herumlag. Gelang absolut nicht.
Er führte mich rum. Eine kleine Einzimmerwohnung, hell und freundlich. Bis auf eine alte Matratze und eine alte Teekiste aus Holz, die der Tisch war, war sie unmöbliert. An einer Wand waren einen Meter hoch in Leinen eingepackte Platten mit Haschisch gestapelt. Es mussten Hunderte sein. Ich nahm eine hoch. Sie war klebrig vom durchquellenden Haschharz und wog ein Kilo, das stand jedenfalls drauf.
„Aus Afghanistan“, flüsterte Bernard. Aber er flüsterte ja immer.
Er baute einen stolzen Joint und wir rauchten ihn. Lange lagen wir so rum, bis wir wieder sprechen konnten.
„Wenn du was von dem Zeug willst“, sagte er, „bedien' dich. Was auf dem Boden liegt, kannst du mitnehmen. Komm so oft du willst einsammeln.“
Tatsächlich lagen auf dem grauen Teppichboden vom Zerbrechen der Platten jede Menge Dopestückchen herum.
Ich besuchte ihn jede Woche. Wir redeten, rauchten was und ich steckte was ein.
Trotz ihres neuen Freundes Bimmi war ich über die Schmerzgrenze hinaus in Stella verliebt. Es war wie ein Brandmal im Gehirn. Ich spielte Millionen Varianten durch, wie ich sie (zurück-) erobern konnte. Wenn ich mit ihr sprach, schüttelte es mich vor lauter Sehnsucht. Von all dem sagte ich ihr aber lieber nichts. ‚Stella‘ war nun ein ‚Projekt‘ - eine lang angelegte Geschichte, die sich vielleicht erst nach Jahren oder Jahrzehnten zum Glücklichen wenden könnte.
Mein erster Schritt war, Eifersucht hin oder her, Bimmi genauer kennenzulernen. Als er letztens Stella von der Schule abgeholt hatte, war mir so elend gewesen, dass ich kaum ein ‚Hallo‘ rausgekriegt hatte. Doch, dachte ich, wenn ich seine Stärken und Schwächen studierte, könnte ich ihn vielleicht leichter ausbooten. Dazu trampten Tobias und ich nach Berlin und besuchten ihn.
Zur Begrüßung umarmte er uns herzlich. Es gab zu kiffen und Bier. Hinterher fetzten wir zu einer Fete in einem Jugendzentrum am Schlachtensee. Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen. Die letzten roten Blätter fielen von den Bäumen. Der See glitzerte algengrün. Bimmi hatte einen ollen, beigen Lodenmantel und Botten ohne Schnürsenkel an. Er hatte die Hände tief in die Manteltaschen gesteckt und seine langen strähnigen Haare fielen ihm bei jedem Schritt ins Gesicht.
Die Wände des Jugendzentrums waren mit bunten Drachen, Hexen und Anarchiezeichen bemalt. Eine gute Hippieband spielte. Bimmi stellte uns einigen Leuten vor, die sofort mit uns nett quasselten. Wir flirteten mit wirklich duften Millies. Am nächsten Mittag frühstückten wir in einer echt starken Anarchokneipe und kifften (Bimmi und ich) und becherten (Tobias, Bimmi und ich). Die Atmosphäre war so supidupi locker, dass es einfach nicht zum Aushalten war.
Als Tobias und ich an der Grenze in Dreilinden auf ein Auto warteten, das uns mitnehmen wollte, war klar, dass Stella und Bimmi ein perfektes Paar waren. Bimmi und ich waren uns zwar irgendwie ähnlich, aber er war schlicht eine Klasse besser: gut aussehend, weltstädtisch, überhaupt nicht überheblich und zusätzlich auch noch ein dufter Kumpel. Aber ich würde nicht aufgeben Stellas Herz zu erobern - niemals!
Nachmittags kam Tobias.
„Ich habe Neuigkeiten“, hatte er am Telefon gesagt. Abends wollten wir auf ein Konzert in Döhren. Bis dahin war noch viel Zeit. Wir hörten Punk und vernichteten ‚Herris‘ (Bier). Erst ‚Sex Pistols‘ und dann ‚Clash‘. Echt geil. Neuerdings fuhren wir voll auf Punk ab.
Die Neuigkeit war, dass Tobias mit einem Gitarristen (Christian) eine Session gemacht hatte. Tobias wollte nun Schlagzeuger werden. Er suchte schon eine ‚Schießbude‘.
Dann erzählte er ne knorke Story: „Der Bunker in dem wir geübt haben, ist in der Brentanostraße. Ich bin Bus gefahren. Da stiegen zwei dreiviertelalte Typen ein und machten eine Flasche Sekt auf, die sie dann zechten. Der Busfahrer stoppte den Bus und sagte durch den Lautsprecher, dass sie aussteigen müssten, weil in seinem Bus nicht gesoffen würde. Sind sie aber nicht. An der nächsten Haltestelle auch nicht. Dann ganz plötzlich ist der Bus umgedreht und ist zu einem Bullenrevier gedüst. Alle anderen Passagiere waren stinksauer. Dort hat der Fahrer dann die Bullen geholt und die beiden Typen verhaften lassen. Ich bin solidarisch mit den beiden mit ausgestiegen und habe bei den Bullen unterschrieben, dass sie nichts gemacht hatten, außer Sekt zu trinken. Diese Fahrer-Sau. Der hat doch ne Panne oder?“ Gelacht.
„Schlagzeug ist total super, um sich von den Wellentälern abzureagieren“, sagte Tobias nach einer Pause nun bitterernst, „dann kommt man eher wieder auf einen Wellenberg.“
Wir laberten über Millies, den Hauptgrund für unsere Wellentäler und Wellenberge.
„Denen dürfen wir wirklich nicht mehr so viel Aufmerksamkeit schenken. Damit muss endgültig Schluss sein“, argumentierte Tobias.
„Ja“, stimmte ich zu, „es sind Gefühlsschwämme.“
Zu Tobias waren in letzter Zeit Viola, Lisa, Karine, Conny, Astrid, Stine und Tina blöd gewesen.
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