Peter Baldinger
1 ‚...wie Hulle‘
ein Zeitrafferroman - manchmal jedoch in Zeitlupe
Inhaltsverzeichnis
Titel
Inhalt Inhaltsverzeichnis Titel Inhalt 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983
1968 1968 Es war Weihnachten und es gab Bescherung. Meine zwei Jahre jüngere Schwester und ich liefen ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa saßen Muttern und Vatern. Echte Kerzen brannten an der verdammten Fichte. Wunderkerzen spuckten grelle Sternchen. Muttern spielte Horrorweihnachtssongs auf einer ollen Blockflöte. In einem Räuchermann aus dem Erzgebirge verschröggelte Geruchszeug. Ich wollte noch einen Schritt tun, aber mittendrin ging es nicht mehr. Mein Körper war gelähmt. Meine Schwester riss schon die Pakete auf, aber ich konnte mich, so sehr ich mich auch anstrengte, einfach nicht rühren. Ich war nur noch im Kopf. Muttern trug ein Kleid, mein Vater hatte einen Anzug an, meine Schwester trug eine weiße Wollstrumpfhose und ein rotes Röckchen. Ich wusste, ich hatte einen hellblauen Rollkragenpullover, eine graue Stoffhose und karierte Socken an. Aber ich konnte es nicht sehen. Mein Körper war weg. Muttern fing gerade an „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ zu tröten, als sie sah, dass etwas nicht stimmte. Sie legte die Flöte weg und fragte, was los ist. Mein Vater stand auf und kam hinter dem Glastisch vor. Er griff mich wohl am Arm und schüttelte ihn, aber das konnte ich nicht fühlen oder sehen. Ich versuchte zu rufen, aber kein Laut kam aus meiner Stimme. Eine Sekunde später war alles wieder normal. „Was war denn?“ fragte Muttern, aber ich antwortete ihr nicht, denn ich wusste nicht, was gewesen war. Ich raste rüber zu den Geschenken und riss die Verpackungen auf. „Vielleicht war er nur aufgeregt“, hörte ich meinen Vater sagen. Aber das konnte nicht sein, da ich mir die Geschenke schon vorher heimlich angesehen hatte. In dem langen Paket war die Silberbüchse von Winnetou und Old Shatterhand. In dem anderen Paket musste das Startset von Fischertechnik sein. Dabei hatte ich doch tausendmal gesagt, dass ich Fischertechnik blöd fände. Vielleicht hatte ich ja mein Bewusstsein erlangt?
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Es war Weihnachten und es gab Bescherung. Meine zwei Jahre jüngere Schwester und ich liefen ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa saßen Muttern und Vatern. Echte Kerzen brannten an der verdammten Fichte. Wunderkerzen spuckten grelle Sternchen. Muttern spielte Horrorweihnachtssongs auf einer ollen Blockflöte. In einem Räuchermann aus dem Erzgebirge verschröggelte Geruchszeug. Ich wollte noch einen Schritt tun, aber mittendrin ging es nicht mehr. Mein Körper war gelähmt. Meine Schwester riss schon die Pakete auf, aber ich konnte mich, so sehr ich mich auch anstrengte, einfach nicht rühren. Ich war nur noch im Kopf. Muttern trug ein Kleid, mein Vater hatte einen Anzug an, meine Schwester trug eine weiße Wollstrumpfhose und ein rotes Röckchen. Ich wusste, ich hatte einen hellblauen Rollkragenpullover, eine graue Stoffhose und karierte Socken an. Aber ich konnte es nicht sehen. Mein Körper war weg.
Muttern fing gerade an „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ zu tröten, als sie sah, dass etwas nicht stimmte. Sie legte die Flöte weg und fragte, was los ist. Mein Vater stand auf und kam hinter dem Glastisch vor. Er griff mich wohl am Arm und schüttelte ihn, aber das konnte ich nicht fühlen oder sehen. Ich versuchte zu rufen, aber kein Laut kam aus meiner Stimme.
Eine Sekunde später war alles wieder normal.
„Was war denn?“ fragte Muttern, aber ich antwortete ihr nicht, denn ich wusste nicht, was gewesen war. Ich raste rüber zu den Geschenken und riss die Verpackungen auf.
„Vielleicht war er nur aufgeregt“, hörte ich meinen Vater sagen. Aber das konnte nicht sein, da ich mir die Geschenke schon vorher heimlich angesehen hatte. In dem langen Paket war die Silberbüchse von Winnetou und Old Shatterhand. In dem anderen Paket musste das Startset von Fischertechnik sein. Dabei hatte ich doch tausendmal gesagt, dass ich Fischertechnik blöd fände.
Vielleicht hatte ich ja mein Bewusstsein erlangt?
In der Schule setzte ich mich neben ein Mädchen mit Rattenschwänzen. Sie war sehr freundlich, denn sie ließ mich alle Hausaufgaben und Klassenarbeiten von sich abschreiben. Ihre Mutter erlaubte nicht, dass wir auch nachmittags zusammen spielten. Sie musste immer lernen. Deshalb war sie auch so gut.
Mein bester Freund war Meschan. Er wohnte gleich im Nachbarhaus.
Weil ich vorher in Trier gewohnt hatte, sagte ich immer „gell“ und „isch“ und so was. Meschan hänselte mich deswegen. Das versuchte ich mir also ganz schnell abzugewöhnen.
Ich rief und er kam runter.
Wir streunten durch die Straßen und durften nur auf den Rissen im Asphalt gehen. Wir stellten uns vor, dass der Rest Hundekot war. Mit einem Fingerdruck in der Hosentasche auf unsere Dödelspitze konnte man ihn aber abschalten. Wenn also einer neben eine Linie getreten war, stritten wir uns darüber, ob er rechtzeitig abgestellt hatte oder nicht.
Das wurde schnell doof, auch weil wir das schon wochenlang spielten. Deshalb suchten wir den Süßigkeitenmann. Irgendwo latschte er immer rum. Wir trafen auf ihn, als er gerade an der ‚Reichsapotheke‘ (hieß echt so) vorbei ging.
„Hallo, Mann, kaufst du uns Süßigkeiten?“ fragte Meschan. Er beäugte uns.
„Ja, los! Mach schon!“ drängelte ich. Tatsächlich ging er mit uns an eine Bude und kaufte uns eine Tüte voll mit buntem Pfennigzeugs.
Während ich Brausepulver mit Waldmeistergeschmack von der Handinnenfläche leckte und Meschan eine Lakritzeschnecke in seinen Mund stopfte, hockten wir auf einer Bordsteinkante und spielten ‚Opas letzten Versuch‘. Dazu stellten wir drei Streichhölzer mit den Köpfen gegeneinander auf die Streichholzpackung. Zwei davon klemmten wir mit der Schublade fest. Das dritte lehnten wir nur lose gegen die anderen beiden. Dann zündete man von unten die Phosphorköpfe an. Das nicht eingeklemmte Holz stellte sich beim Verbrennen lustig auf. Wir lachten und machten neue Versuche.
Da Meschan nicht konnte, rannte ich zum Kinderspielplatz auf dem Karl-Marx-Platz. Da lungerte Inka rum. Prima Name! Sie war dick und hatte schon Busen. Sofort griff sie mich und küsste mich. Fühlte sich dufte an. Mit dem Ärmel trocknete ich meine nasse Backe und fischte aus dem Mülleimer neben der Bank eine winzige, leere Underbergflasche. Ich schraubte den roten Deckel ab, zündete eine Wunderkerze an, knickte den Draht hinten um, stülpte sie brennend in das Fläschchen, drehte schnell den Deckel drauf und schmiss sie in den nächsten Busch. Es gab einen dumpfen Knall und die Glassplitter peitschten durch die Gegend.
An einem Samstag nach dem Frühstück gab mir mein Vater drei Mark und schickte mich zum Frisör. Es war so ein Altherrenfrisör am Stephansplatz. Er konnte Kinder nicht leiden. Deshalb ging er rabiat mit ihnen um.
Er machte den Umhang so eng, dass ich hustete und riss mir am Kopf rum. Während er schnippelte, quasselte er mit anderen Kunden über Fußball. Er schnitt eine Seite viel zu kurz. Also holte er die Maschine und ratschte alles auf eine Länge. Mit seiner stoppeligen Bürste fegte er die Haare aus dem Nacken.
„Aua“, sagte ich, weil es kratzte. Er hörte es gar nicht, sondern fuhr mich runter, kassierte die Kohle und schickte mich raus.
Es war richtig kalt am Kopf. Eiskalt, wie ich fand. Den Tränen nahe, rannte ich nach Hause. Vor der Tür merkte ich, dass mein Schlüssel weg war. Ich klingelte, aber keiner machte auf. Logisch, denn Muttern war mit meiner Schwester Klamotten kaufen und Vatern half nem Kumpel eine Kommode in die Garage tragen (Bierkästen leeren).
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