Er hatte das schon einmal erlebt und seither nie vergessen. Ein solcher Mob ist unberechenbar. Selbst die ansonsten harmlosesten Gestalten werden plötzlich zu Ungeheuern, die glauben, durch das Massakrieren eines Opfers eine erhabene Pflicht zu erfüllen. Ihre Grausamkeit kennt keine Grenzen, da allerorts die törichte Überzeugung herrscht, Hexerei sei nur durch ein Übermaß an Brutalität zu vertreiben.
So war damals der Betroffenen am lebendigen Leib die Haut abgezogen worden und niemand hatte auch nur einen Finger gerührt, obwohl engste Verwandte darunter waren. Selbst die ansonsten frommsten Gottesdiener scheuten sich nicht, auf die Bedauernswerte in ihrem Todeskampf zu spucken, indes andere das mit Bienenwachs versetzte brennende Kreuz über ihrem Leib schwenkten, bis ihre Schmerzensschreie verstummten und ihr Kadaver auf den Scheiterhaufen geworfen wurde.
Ihr drohte jetzt Ähnliches. Im günstigsten Falle würde man sie wie einen Hund erschlagen oder ihren Kopf so lange unter Wasser drücken, bis ihr Körper leblos erschlaffte.
Dann würde man sie an den Haaren gepackt über den Platz schleifen und spätestens jetzt, falls sie noch leben sollte, durch einen ‚finalen‘ Herzstich töten, da Hexen nur durch Verbrennen oder einen solchen Stich wirklich getötet werden können.
Er stieg von seinem Gaul, stemmte sich gegen eine Mauer und erbrach sich. Welches Brennen jetzt in seinem Hals. Es war das Feuer des Teufels, und wenn es eine Gerechtigkeit gab, musste sich jetzt der Himmel auftun und ein Blitz auf ihn herniederfahren.
Doch nichts geschah. Alles blieb ruhig, als wollte ihn die Welt verhöhnen.
Da riss er sich das Kreuz vom Hals, das er an einer silbernen Kette trug und warf es zornig weg. Wie ausgebrannt und leer war jetzt sein Herz, so dass er sich verzweifelt die Haare raufte und in den Dreck sank.
Dann aber, in diesem ganzen inneren Chaos, meinte er plötzlich eine Stimme zu hören. Es war ihre Stimme, die nach ihm rief, daran bestand kein Zweifel, und sie verzieh ihm.
Aber das war unmöglich. Das durfte sie nicht. Niemand konnte so etwas verzeihen. Diese Stimme aber wurde immer deutlicher, immer eindringlicher, so dass er sie nicht mehr ertrug.
Da sprang er wie von einer Tarantel gebissen auf, schwang sich auf seinen Falben und jagte, ungeachtet aller Risiken, in Windeseile zurück zum Brunnen.
Und tatsächlich! Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. Schon von weitem bemerkte er die aufgebrachte Weiberschar, die sich um irgendetwas drängte und dabei so vertieft war, dass sie ihn gar nicht Nahen hörten und das, obwohl er Bordi erneut effektvoll auf die Hinterläufe zwang.
In völliger Panik sprang er aus dem Sattel, warf sich mit wildem Geschrei auf die Menge und drückte die Weiber mit aller Kraft auseinander.
Kaum aber hatte er sich hindurchgedrängt, erblickte er Lydia auf den Knien. Sie wurde von zwei dieser Furien jeweils rechts und links am Arm gehalten, hingegen eine Dritte – es war die rothaarige Alte – unaufhörlich mit einem Knüppel auf sie eindrosch, gleich einem Stück Fleisch, das man gar klopft.
Augenblicklich sprang er dazwischen und stieß ihre Peinigerinnen beiseite. Dabei schlug er wie ein Irrer um sich, traf eine im Gesicht, die daraufhin stürzte, zog seinen Dolch und drohte jeder, die sich ihm jetzt noch näherte, sie auf der Stelle wie eine Sau abzustechen.
Und tatsächlich glich er mit seinen blutunterlaufenen Augen und dem Schaum vor dem Maul in diesem Moment einem zu allem entschlossenen Besessenen, so dass diese Weiber erschrocken innehielten und sich ängstlich bekreuzigten.
Noch bevor man sich versah, hatte er Lydia auf das Pferd gehoben und sich in den Sattel geschwungen. Und ohne, dass es jemand zu verhindern wagte, ritt er mit ihr davon, indes ihm die verwirrte Menge sprachlos nachschaute.
Kaum außerhalb der Stadtmauer, auf dem Weg nach Camin angekommen, hielt er inne, zog die Leblose vom Pferd und ließ sie behutsam ins Gras gleiten.
Sogleich überstreckte er ihren Kopf in den Nacken und drehte sie auf die Seite, um ihren Mund vom Blut zu befreien. Dann horchte er an ihrer Brust und war erleichtert, dass ihr Herz noch schlug.
Mit seinem Halstuch betupfte er sorgsam ihre Wunden. Sie musste mehrere schlimme Schläge ins Gesicht erhalten haben, denn ihr linkes Auge war völlig zugeschwollen und ihre Oberlippe aufgeplatzt. Auch schien ihre Nase gebrochen, denn auch sie war stark geschwollen und blutete.
In seinem Durcheinander rannte er zum nahen Bach hinunter, tränkte dort das Tuch im Wasser und kühlte damit ihre Schwellungen.
Danach setzte er sich neben sie und wusste in seiner Verzweiflung nicht, was er noch tun sollte. Er hoffte und betete und hatte doch nur einen Wunsch - sie möge am Leben bleiben, gleichviel, was das für ihn bedeutete.
Er hätte nicht sagen können, wie lange er so dasaß und grübelte. Irgendwann kam sie wieder zu sich. Als sie ihn erblickte, lächelte sie matt. Er hingegen brachte kein Wort heraus.
„Du?“, flüsterte sie mit schwacher Stimme.
Er nickte wortlos, umfasste ihre Hand, und was er die ganze Zeit befürchtet hatte, trat ein. Er empfand ein tiefes Mitgefühl. Niemals würde er jetzt noch seinen Auftrag erfüllen können, auch wenn ihm klar war, was das bedeutete.
„Hör zu“, flüsterte er ihr zu. „Du musst von hier verschwinden, für immer. Lass‘ dich nie wieder in Düren sehen, hörst du? Sie haben dich als Hexe erkannt und werden keine Ruhe mehr geben, bis du gerichtet bist. Hier bist du nicht mehr sicher.“
„Warum tust du das?“
„Ich bin es dir schuldig.“
„Aber du hast dich damit selbst in Gefahr gebracht. Man wird dich anzeigen, weil du mir geholfen hast.“ Sie versuchte, sich aufzurichten, doch er hielt sie behutsam nieder.
„Du musst dich schonen und zu neuen Kräften kommen. Ich werde dir nicht weiter helfen können. Dort drüben, siehst du diese Brücke? Geh‘ über diese Brücke und dann nach Norden.“
„Aber was wird aus dir?“, wollte sie jetzt wissen. „Auch du kannst jetzt nicht mehr zurück.“
Ohne weiter darauf einzugehen, drückte er ihr etwas Geld in die Hand. „Es ist nicht viel, aber es wird dir über die nächsten Tage helfen. Nach Norden, hörst du, nicht nach Süden“, wiederholte er. „Nur dort bist du sicher. Wir dürfen uns nicht wiedersehen, nie mehr. Versprich mir, dass du nie wiederkommen wirst.“
„Das kann ich nicht. Nicht, wenn ich weiß, das du meinetwegen in Gefahr bist“, stöhnte sie unter Schmerzen.
„Das musst du aber, verdammt noch mal! Es ist sehr wichtig!“ Er sprang plötzlich auf, zitterte am ganzen Leib, und mit einem Male schien er ein ganz anderer.
Sie sah ihn entsetzt an. Da wurde ihm klar, dass er deutlicher werden musste. Aber die Gefahr, dass sie seinetwegen zu irgendeiner Unbedachtheit neigen könnte, war einfach zu groß.
„Hör zu, Lydia, es ist nicht so, wie es aussieht. Ich habe …“ An dieser Stelle kam er ins Stocken und wich ihren Blicken verstört aus. „Ich habe dich nicht wirklich gerettet, das heißt, ich habe es schon, nur war alles ganz anders. Es gab da eine Vorgeschichte …“
Da legte sie die Hand auf die seine und lächelte ihn an, es sei schon gut. Er müsse nichts weiter erklären. Sie wüsste ohnehin alles. Die Weiber hätten es ihr gesagt.
Für einen Moment verschlug es ihm die Sprache, aber die Vorstellung, dass sie es wusste, alles wusste, beschämte ihn zutiefst.
„Und du verdammst mich nicht?“, fragte er zögernd.
„Nein.“
Da bedeckte er das Gesicht mit den Händen, als wolle er sich vor ihr verstecken.
„Sage mir nur, warum hast du es getan?“, wollte sie jetzt wissen.
„Das kann ich nicht erklären.“
„Warum nicht?“
„Du würdest es nicht verstehen.“
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