In Gedanken ertappte er sich sogar dabei, wie er mitschlug, und er wusste auch wohin. Er hatte das schon öfter beobachtet, wenn Verbrecher öffentlich gezüchtigt wurden und empfand eine seltsame Freude daran.
Selbst jetzt erschien es ihm überaus drollig, wie sie sich in die Haare gingen, einander wegdrückten und doch immer wieder zu treten versuchten und dabei einen ganz eigenartigen Tanz vollführten, begleitet vom Jubel und den Pfiffen der Umherstehenden, die sich daran ergötzten.
Und wäre er in anderer Stimmung gewesen, er hätte sicher mitgeklatscht, ihnen womöglich sogar einen Kreuzer zugeworfen. So aber holte ihn gleich wieder jener Gedanke ein, weshalb er gekommen war.
Aber da war diese unerklärliche Furcht, die Angst vor dem Versagen gerade in jenem Moment, wo ein Versagen unverzeihlich bliebe, wenn ihn ihr fragend- erschrockener Blick träfe und seine Hand schwach werden ließ. Nichts fürchtete er mehr. Darum musste es schnell geschehen, kurz und schmerzlos.
Doch wie sollte das gelingen, wenn er schon allein beim bloßen Gedanken daran zu zittern begann? Sie würde ihn erkennen und dann wäre alles vorbei.
Eine andere Lösung musste her. Nur welche?
Und während er noch immer diese streitenden Weiber beobachtete, die jetzt dazu übergingen, sich mit Dreck zu bewerfen und dabei in ihrer Entschlossenheit keinen Schritt voreinander wichen, kam ihm plötzlich eine verblüffende Idee.
Er packte die Zügel, gab seinem Falben die Sporen und preschte im straffen Galopp auf sie zu. Er war ein guter Reiter und verstand es, mit seinen Künsten zu beeindrucken. Besonders das niedere Volk konnte er damit jedes Mal verschrecken, wenn er auf diese Weise eine Attacke antäuschte und kurz vor ihnen abstoppte.
So tat er es auch jetzt, indem er, kurz bevor er sie erreichte, die Zügel schlagartig raffte und damit den Gaul auf die Hinterhufe zwang. Schnaubend richtete sich Bordi auf, ruderte mit den Vorderläufen in der Luft, worauf die Weibermenge erwartungsgemäß zurückwich, und kam dann direkt vor ihnen zum Stehen.
„Habt ihr denn nichts Besseres zu tun, als euch zu prügeln?! Ihr solltet euch schämen!“, schäumte er vor Wut und muss ihnen dabei sicher wie ein Wesen aus einer anderen Welt vorgekommen sein, so sauber, so elegant, so distinguiert.
Völlig verdattert starrte man ihn an. Ein älteres Weib aus der Menge fing sich jedoch sofort und trat ihm dreist entgegen.
Es war eine alte Rothaarige in einem zerrissenen Leinenfetzen auf dem Leib, der wohl vormals ein Kleid gewesen war, und einer albernen Filzkappe auf dem Kopf. Offenbar war sie die Scharfmacherin, die seinen niederen Rang sofort erkannte. Ziemlich ruppig fuhr sie ihn an, er solle sich gefälligst um seinen Kram kümmern - das hier ginge ihn nichts an und hatte damit sogleich einige Lacher auf ihrer Seite.
Doch Jofree ließ sich nicht beirren. Mit einem heftigen Tritt gegen ihre Schulter stieß er zurück.
„Hör zu, du verdammte Schlampe. Wenn nicht augenblicklich Ruhe ist, werde ich die Stadtwache rufen und erzählen, dass du den Pöbel aufwiegelst. Dann wirst du in den Turm geworfen wegen gemeinen Landfriedenbruchs und ich werde persönlich darüber wachen, wie man dich auf den Bock spannt und dir deine Titten abschneidet. So was macht man nämlich mit Furien wie dir.“
Das zeigte Wirkung. Die Lacher verstummten. Man begann zu flüstern und betrachtete ihn voller Misstrauen. Nur diese Schlampe gab sich weiterhin unbeeindruckt.
„Sieh an, willst dich wohl wichtig machen, du Rotznase?“, provozierte sie spitz. „Wer bist du überhaupt?“
„Es wäre besser zu fragen, wer bist du, wenn du deine Freude darin zeigst, wie sich diese beiden Weiber hier zerfleischen, anstatt die wirklichen Gefahren zu erkennen.“
„Was meinst du damit?“ Ihre Verwunderung schien echt.
„Das, was du offenbar in deiner Hühnerblindheit nicht siehst!“, erwiderte er energisch und wandte sich jetzt wieder den anderen zu. „Seht euch doch nur um. Verwundert es euch nicht, wieso das Wasser in letzter Zeit so dreckig ist (es war tatsächlich in den letzten Tagen etwas trübe) und warum die Jauche nicht mehr stinkt, dass sie selbst beim Hineintreten unbemerkt bleibt? Außerdem weht der Wind nicht mehr vom Süden wie sonst um diese Jahreszeit und die Krähen haben sich zu stark vermehrt. Ihr wisst, was das bedeutet.“
„Unsinn!.“
Jofree blieb indes hartnäckig. Man wüsste, was man wüsste, stichelte er weiter und behauptete, dass hier schon seit Längerem seltsame Dinge vor sich gingen, die womöglich einiges erklären könnten, selbst diese Rauferei. Dazu müsste man aber Scheuklappen ablegen, statt sich sinnlos die Köpfe einzuschlagen.
„Unter uns gibt es keine Verworfenen, wenn du das meinst“, stellte jetzt eine andere klar, die seinen Verdacht erriet. „Und wenn, hätten wir sie schon längst erkannt!“
„Du und erkennen? Dass ich nicht lache! Sieh dich doch nur an! Erkennst nicht einmal den Dreck unter deinen Füßen!“, spottete er.
Und tatsächlich war sie gerade unbemerkt in einen Haufen getreten.
Jetzt lachten alle und brachten sie in Verlegenheit, da sich damit genau das bestätigte, was Jofree soeben gesagt hatte. Er hakte auch sofort nach.
„Was ist mir dir? Findest du es etwa schön, derart im Dreck zu stehen? Dabei sagte ich doch gerade, woran das liegt! Auch du bist blind! … Aber wie ich sehe, hast du einen Augenfehler. Vielleicht liegt es daran? Wer hat dir das zugefügt?“
„Das habe ich seit meiner Geburt.“
„Seit deiner Geburt? Das ist seltsam. Du siehst den Dreck vor deinen Augen nicht, willst aber eine Verworfene erkennen. Wie soll das gehen?“
Dieses forsche Ansprechen, samt Preisgabe der Lächerlichkeit zeigte Wirkung. Sie errötete und wäre jetzt sicher am liebsten fortgerannt, zumal sie nun alle anstarrten. Damit hätte sie sich aber nur noch unmöglicher gemacht - ein Zustand, der schnell ins Gegenteil umschlagen konnte.
Jofree spürte, dass es nur noch eines kleinen Anstoßes bedurfte und die Ärmste wäre tatsächlich in Not geraten. Doch gerade als die Situation zu eskalieren drohte, begann er sie zu entschärfen.
„Ach, ihr dummen Gänse, lasst euch nichts erzählen! Und ihr wollt eine Hexe erkennen? Seht nur hin - hat sie etwa ein Mal auf der Wange? Trägt sie ein Kopftuch, um ihr Äußeres zu verbergen? Heißt sie etwa Innocentia, Clothildia oder gar Lydia als typische Hexennamen? Ist sie allein und steht immer abseits beim Wasserholen? Ich sage Euch, das sind die Zeichen einer wahren Hexe! Und bei Gott, wenn ihr jemals solche findet, dann tut, was ihr tun müsst!“
Erneut setzte Gemurmel ein. Man neigte die Köpfe einander zu und begann zu tuscheln. Gewiss wäre jetzt der rechte Moment für weiteres Gift gewesen, doch Jofree genügt es. Der Rest lag nun in Gottes Hand.
Schlagartig riss er seinen Gaul herum und jagte davon, weg von diesem Ort, dann die enge Gasse hinauf zum Stadttor hin, das er in Windeseile durchquerte und erst draußen vor dem Burgfried wieder zum Stehen kam. Hier sah er sich noch einmal um, als fürchte er, verfolgt zu werden.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, was er getan hatte. Die Saat der Verderbnis war gelegt und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie aufging.
Doch wie elend wurde Ihm beim Gedanken an das nun Folgende. Gleich rief der Ausrufer zur neunten Stunde und sie würde am Brunnen erscheinen, mit ihrem Krug unter dem Arm und dem verräterischen Kopftuch. Völlig arglos käme sie dorthin, vielleicht noch mit einem ‚Gott zum Gruß‘ auf den Lippen.
Zweifellos würde man ihr sofort das Tuch vom Kopf reißen und auf das Mal an ihrer Wange verweisen, dann Gassendreck darauf schmieren und irgendeine Abnormität erkennen.
Eine von ihnen, vermutlich die Rothaarige, riefe dann den Fluch aus. Der Rest wäre Folge einer wüsten Raserei, in der man erleben konnte, wie schnell Menschen zu Bestien pervertieren, sobald sie vom Hexenwahn ergriffen sind.
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