Hinter der Küche befanden sich noch zwei weitere Kammern, in einer wurden die Speisen gelagert und die andere war mit einem Bett, einem kleinen Schrank und einem Waschtisch versehen. Dort sollte Lena ab dem heutigen Tag wohnen. Sie war die letzten Wochen schon ganz aufgeregt gewesen, denn es war das erste Mal, dass sie nicht in ihrem Elternhaus schlafen und leben würde.
Vom Flur aus gelangte man rechts durch eine weitere Tür. Hier hatten sich die Fuhrleute eine gute Stube eingerichtet, in der sie Besuch empfangen konnten. Die Holztreppe mit wunderschön gedrechseltem Geländer führte nach oben in die Schlafkammer und die Kammer für die Kinder. Ihr Dach war nun mit Tonziegeln eingedeckt und mit Strohwische gedämmt, ein Luxus, den sich nicht jeder der Nachbarn leisten konnte.
Agnes stand vor der Haustür und betrachtete ihr neues Heim. Das Fachwerk erstrahlte in einem satten Grün. Die Fächer waren mit Klaiben ausgefüllt und mit Lehm verputzt. In der letzten Woche wurden die Fächer und auch die Innenwände weiß getüncht worden. In den Balken über der Haustür hatte der Zimmermeister die Buchstaben Anno Domini MCCXXXV in das Holz geschnitzt. 1235 – das Geburtsjahr der Kinder, war das wunderbarste ihres bisherigen Lebens.
Aber warum verspürte sie einen so unangenehmen Druck im Bauch, als läge ein schwerer Stein in ihrem Magen? Sie musste doch uneingeschränkt glücklich sein.
Die Kinder wuchsen und gediehen, das Geschäft lief besser als je zuvor und ihr Georg liebte sie noch wie am ersten Tag. Und dennoch konnte sie dieses ungute Gefühl einer nahenden Bedrohung nicht abschütteln.
Lena, die mit einem Wäschebündel in der einen und einem großen Strauß Sonnenblumen in der anderen Hand neben ihre Herrin getreten war, bemerkte die getrübte Stimmung der jungen Frau. Sie betrachtete Agnes aufmerksam. Die Dienstherrin war außergewöhnlich schön, die langen pechschwarzen Haare, die sie nur in der Nacht offen trug, hatte sie unter einer Haube nach oben gesteckt. Ihr zarter und zerbrechlich wirkender Körperbau widersprach der Kraft und Energie, die in Agnes steckten.
Am heutigen Morgen war die Fuhrmannsfrau ungewöhnlich still und nachdenklich. Ihr Blick, der für den Außenstehenden auf das Haus gerichtet schien, erfasste aber nicht die Umgebung, sondern war nach innen gekehrt. Plötzlich schüttelte sie den Kopf und löste sich aus der Starre. Sie bemerkte die kleine Magd, die neben ihr stand und sie musterte.
»Guten Morgen Lena. Bist du bereit für den großen Tag?«
Die Dienstmagd nickte und wusste genau, was die Herrin gemeint hatte. Von heute an war sie kein Kind mehr, sondern sorgte für sich selbst. Sie zog aus dem Elternhaus aus.
In der letzten Woche war sie acht Jahre alt geworden und musste sich nun dem Ernst des Lebens stellen, wie ihre Mutter ihr immer gesagt hatte. In wenigen Jahren wäre sie mannbar und würde ihren eigenen Haushalt führen.
Sie seufzte, nickte Agnes zu und betrat nach ihr das Haus. Die mitgebrachten Sonnenblumen stellte sie auf den Küchentisch in eine Holzvase. Ihr Bündel mit den Habseligkeiten brachte sie in die Kammer hinter der Küche, die in den kommenden Jahren ihr zuhause sein würde. Sie könnte die Kleidungsstücke am Abend auspacken. Danach entzündete sie das Herdfeuer und folgte der Herrin, um die letzten Sachen aus dem Haus der anderen Fuhrmannsfrau zu holen.
Griseldis stand blass und schwitzend in der Wohnkammer und rieb sich ständig den Rücken.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, wollte Agnes von ihr wissen. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie mit ängstlicher, zittriger Stimme. »Als ich heute Morgen aufgestanden bin, war ein Blutfleck in meinem Bett und ich habe entsetzliche Kreuzschmerzen.«
Alarmiert lief Agnes zu ihrer Schwägerin und führte sie zum nächsten Schemel.
»Setzt dich erst einmal hin und trink einen Schluck Wasser. Lena laufe zu der alten Josepha und sag ihr, dass sie hier gebraucht wird.«
Jetzt zitterte Griseldis am ganzen Leib und fing an zu weinen.
»Es ist zu früh, das Kind hat doch noch vier Monate Zeit. Ich darf es nicht verlieren.«
Sie umklammerte Agnes Arm.
»Es wird alles gut, am besten legst du dich erst einmal ins Bett. Wenn Lena wieder da ist, kann sie dir zur Hand gehen und ich bleibe hier, bis dein Mann kommt.«
Sie versuchte, Griseldis mit einem aufmunternden Lächeln zu beruhigen – aber ohne Erfolg. Ihre Schwägerin war bis ins Mark erschüttert, zu lange hatte sie sich auf dieses Kind gefreut. Agnes würde sich auf ewig Vorwürfe machen, wenn Griseldis das Kind verlöre, denn schließlich waren die letzten Wochen für alle sehr kräftezehrend.
Ihre Schwägerin hatte sich zusätzlich zu ihrem Haushalt und dem Fuhrgeschäft auch um Konrad und Antonia gekümmert, während sie mit Lena bei den Umbaumaßnahmen halfen.
Sie führte die Schwangere in ihr Bett und holte Leinentücher, die sie in eine Schüssel mit kaltem Brunnenwasser tauchte und Griseldis auf die Stirn legte. Nach einiger Zeit kehrte Lena mit der Kräuterfrau zurück. Die alte Josepha schickte das Mädchen und Agnes aus der Schlafkammer und untersuchte Griseldis gründlich. Sie wusch sich die blutigen Hände und rief Agnes und Lena wieder herein.
»Lauf zu Bruder Jordan und bitte ihn hierher. Er soll seinen Mohnsaft mitbringen.«
Lena lief, so schnell ihre Beine sie tragen konnten, in Richtung Antoniushospital, in dem sie den kleinen Mönch vermutete.
Die alte Josepha tastete den Bauch der Schwangeren ab und fühlte die feinen Tritte des Ungeborenen.
»Hab keine Angst, dein Kind lebt, es hat es nur ein bisschen zu eilig, auf die Welt zu kommen. Du hast dir wohl ein wenig zu viel zugemutet. Wenn du in den nächsten Wochen das Bett hütest und regelmäßig den Mohnsaft einnimmst, sollten dir Bauch oder Rücken so schmerzen wie heute, dann müsste es gelingen, das Kind im Körper zu halten. Deinen Mann darfst du nicht mehr empfangen. Schick ihn zu den Huren in die Rosengasse, wenn ihn der Hafer sticht.«
Die eben noch blasse Griseldis lief im Gesicht hochrot an, nickte aber gehorsam.
In der Zwischenzeit war die kleine Magd mit Bruder Jordan zurückgekehrt. Josepha erklärte die Lage und der Mönch übergab der Alten das Fläschchen mit dem Mohnsaft. Sie flößte Griseldis einen Löffel davon ein. Danach nahm sie Agnes zur Seite.
»Sie muss ruhen bis zur Niederkunft, sonst werde ich für nichts garantieren.«
Agnes nickte. »Sie kann in das Kinderzimmer einziehen und die Kinder schlafen bei mir in der Schlafkammer. Das wird schon gehen. Ich will alles tun, was ich vermag, damit es ihr an nichts fehlt.«
»Gut. Mehr kann ich im Moment nicht tun. Lasst mich rufen, wenn etwas nicht in Ordnung ist.«
Sie verabschiedete sich von der Schwangeren und Bruder Jordan.
Griseldis hatte sich beruhigt und flüsterte einige unverständliche Worte, bevor sie einschlief. Der Geistliche bekreuzigte sich und sprach ein Gebet für die werdende Mutter. Dann verabschiedete auch er sich von den Anwesenden und lief zurück in Richtung des Hospitals.
Agnes bat Lena, sich an die Schlafstatt zu setzten und über Griseldis zu wachen. Während dessen stillte sie die Kinder und versorgte sie mit frischen Windeltüchern. Die beiden schliefen in letzter Zeit tagsüber immer weniger und betrachteten aufmerksam alles, was um sie herum geschah. Sie reagierten mit einem Lächeln, wenn man sie ansprach und mit ihnen spielte. Heute war aber kein Tag zum Spielen.
Seufzend legte Agnes die Kinder zurück in die Wiege und schickte die Magd zu den beiden, während sie am Bett ihrer Schwägerin wachte und einige Kleidungsstücke ausbesserte. In Abständen erneuerte sie die kalten Umschläge auf der Stirn der Schwangeren. Sie hörte an den Geräuschen von nebenan, dass Lena sich im Haushalt nützlich machte.
Als Griseldis zwischendurch erwachte, gab Agnes ihr erneut einen Löffeln Mohnsaft, so wie es ihr von Josepha aufgetragen worden war. Der Sirup tat seine Wirkung. Die Schwangere schwitzte nicht mehr und schien auch keine Schmerzen mehr zu haben. Sie lag mit geschlossenen Augen und rosigen Wangen im Bett und schlief gerade wieder ein, als der dicke Georg in die Kammer stürmte.
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