»Den Namen darf ich euch nicht sagen. Er ist ein Reichsritter am Hofe König Heinrichs. Seine Verlobte ist auf unerklärliche Weise aus Frankfurt verschwunden. Dies ist schon einige Wochen her. Seitdem bin ich auf der Suche nach ihr. Ich habe ihren Weg bis hierher verfolgt. Einer der Stadtwachen sagte mir, dass sie von Fuhrleuten in die Stadt gebracht wurde und nach dem Zwischenfall auf dem Krautmarkt am gestrigen Tag erfuhr ich, dass die Frau zu euch gehört. Dann bin ich ihr zu eurem Haus gefolgt und habe auf den richtigen Moment gewartet, sie anzusprechen.«
Es dauerte einen Moment, bis die Worte zum dicken Georg vordrangen. Als er begriff, was er soeben gehört hatte, lockerte er seinen Griff.
»Die Fuhrleute, die du suchst, sind wir. Wir haben die Edelfreie dem Tode nah im Bienental aufgelesen und mit nach Mühlhausen genommen. Weil sie so krank war, haben wir sie ins Antoniushospital gebracht.«
»Ist sie noch dort?«
Die Fuhrleute sahen sich an. Eben war es der dicke Georg gewesen, der Angst um seine Frau hatte, nun konnte man es dem Jüngeren der beiden am Gesicht ablesen, was in ihm vorging. Der dicke Fuhrmann antwortete für ihn.
»Sie ist tot.«
»Und was ist mit dem Kind? Mein Herr erhebt Anspruch darauf.«
»Es ist mit ihr gestorben. Sie sind auf dem Friedhof von Sankt Blasien begraben.«
Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, war dem dicken Georg diese Lüge über die Lippen gegangen. Sein Schwager war bei der Frage nach dem Kind noch blasser geworden, aber er verzog ebenfalls keine Miene. Sie nahmen ihre Messer herunter und traten einen Schritt zurück, um dem Mann die Möglichkeit zu geben, die Kleider zu ordnen und sich wieder zu sammeln.
»Nun, dann ist mein Auftrag erfüllt und ich kann nach Frankfurt zurückkehren, obwohl ich nicht weiß, wie mein Herr reagiert, wenn er erfährt, dass das Kind tot ist.«
Eine Spur von Sorge überzog das Gesicht des Fremden.
»Es tut mir leid, dass ich euch erschreckt habe. Sagt das auch eurer Frau.«
Der dicke Georg nickte zur Bestätigung. Als der Unbekannte aus ihrem Blickfeld verschwunden war, liefen die beiden Männer wieder zurück nach Hause.
Griseldis wartete schon in der Wohnkammer auf sie. Agnes war ebenfalls herübergekommen. Die Kinder hatte sie in der Obhut Lenas zurückgelassen.
In kurzen Sätzen berichteten die Männer von dem Zusammentreffen mit dem Fremden. Die Frauen waren froh, dass die beiden unversehrt zurückgekehrt waren. Agnes hatte sich ebenso blass wie Georg auf einen Schemel gesetzt.
»Meinst du, es war richtig, den Mann zu belügen? Antonia ist das Kind eines Reichsritters und einer Edelfreien. Hat sie nicht ein Anrecht darauf, standesgemäß aufzuwachsen?«
Sicher war sie einerseits froh, dass ihr Schwager gelogen hatte. So musste sie das Mädchen, das sie liebte wie ihr eigenes Kind, nicht wieder hergeben. Aber hatten sie sich damit nicht auf alle Ewigkeit versündigt?
»Ich konnte kaum anders. Ich glaubte, das Richtige getan zu haben. Nachgedacht habe ich darüber schon öfter. Die junge Edelfreie war kurz vor der Niederkunft fernab ihrer Heimat. So wie sie aussah, war sie wochenlang unterwegs gewesen. Und hatten nicht Bruder Jordan und die alte Josepha erzählt, wie sie zugerichtet war? So etwas kann nur ein Monster fertigbringen. Und so einem Menschen sollen wir Antonia anvertrauen?«
Griseldis nickte bestätigend. »Wenn ihr mich fragt, hat Georg richtig gehandelt. Bei euch beiden wird es Antonia auch an nichts fehlen. Und das Wichtigste ist doch, dass sie geliebt wird und glücklich ist. Habt ihr den Fremden eigentlich gefragt, wie die Mutter hieß und aus welchem Hause sie stammt?«
Die beiden Männer sahen sich an und schüttelten die Köpfe. Sie waren überhaupt nicht auf die Idee gekommen, danach zu fragen. Wahrscheinlich hätte der Fremde ihnen den Namen nicht gesagt, genauso wenig wie den Namen des Ritters.
»Nun, wo der Mann glaubt, das Kind sei tot, wird auch niemand mehr nach Antonia suchen. Sie wird als Konrads Schwester aufwachsen und ihr werdet eine gute Ehe für sie stiften.«
Griseldis Argumente waren sehr überzeugend. So fühlten sie sich gleich weniger schlecht und sündhaft. In Einem waren sich aber alle einig. Sie durften keiner Menschenseele von Antonias Herkunft erzählen, selbst nicht dem Pfarrer unter dem Siegel der Beichte. Das würde das Mädchen und auch die beiden Familien in Gefahr bringen. Bevor Agnes und ihr Mann gingen, luden sie Georg und Griseldis zum Abendessen ein.
Es war schon später Nachmittag, als der dünne Georg an die Tür des Böttchermeisters Jonas in der Linsengasse klopfte. Nach einer ganzen Weile öffnete Johanna, die Frau von Meister Jonas, die Tür.
»Gott zum Gruß, Frau Johanna. Ist euer Mann zu Hause?«
»Er ist in der Werkstatt. Geht einfach durch den Flur.«
Sie schloss die Tür hinter ihm und ging wieder in die Wohnkammer.
Georg durchquerte den Korridor und trat durch die Tür in die Werkstatt. Dort saß der Böttchermeister auf einem kleinen Fass. Vor ihm stand ein größeres Fass. Darauf hatte er den Kopf auf seine Arme gebettet und schlief. Neben ihm war ein Becher umgefallen, aus dem sich der Inhalt auf den Fußboden verteilt hatte. Es roch in der Manufaktur nicht wie sonst nach Holz, sondern nach Wein, Schweiß und ungewaschenem Menschen.
Angewidert von dem Geruch aber trotzdem voller Mitleid für seinen Freund lief Georg auf diesen zu. Er hob den Becher auf und stellte ihn auf ein weiteres Fass. Dann legte er Jonas die Hand auf die Schulter und rüttelte ihn vorsichtig wach.
Der Böttcher schlug die Augen auf und erschrak beim Anblick seines Freundes. Er senkte beschämt den Blick und versuchte die Kleidung in Ordnung zu bringen.
Georg tat so, als sei ihm das Durcheinander in der Werkstatt entgangen und setzte sich neben Jonas.
»Wie es um dich steht, brauche ich wohl nicht zu fragen. Aber es gibt dringende Dinge zu besprechen, die keinen Aufschub dulden. Dabei geht es auch um das Unrecht, das deiner Lisa und euch widerfahren ist.«
Neugierig geworden, stand der Böttcher auf und führte seinen Gast in die Wohnkammer. Johanna bewirtete ihn mit einem Becher Bier, Jonas entschuldigte sich kurz und verschwand nach draußen.
Wenig später kam er gewaschen und frisch gekleidet wieder zurück. Gemeinsam setzten sie sich an den Tisch. Johanna und ihr Mann lauschten gespannt den Worten ihres Freundes. Dabei wurden deren Augen immer größer. »Meister Michael, mein Schwager Georg und ich treffen uns nächste Woche das erste Mal. Wir wollen, dass du unserem Rat beitrittst. Gemeinsam werden wir beraten, wie wir gegen die Ungerechtigkeiten und Übergriffe der edlen Herren vorgehen können. Vielleicht gelingt es uns ja auch, Wiedergutmachung für das Leid, das deiner Tochter und euch beiden widerfahren ist, zu erhalten.«
Als Erste ergriff die sonst so stille Johanna das Wort.
»Ich will, dass der Burgmann so leidet, wie wir. Er soll dafür bestraft werden, dass er sich an einer Jungfrau vergangen und sie dann gesegneten Leibes verstoßen hat. Am liebsten würde ich ihn tot sehen.«
Verzweifelt verbarg sie das Gesicht hinter den Händen und weinte hemmungslos. Jonas traten ebenfalls Tränen in die Augen.
»Ich bin dabei, wenn wir die Adligen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft ziehen.«
»Dann komm in einer Woche in das Haus meines Schwagers. Vielleicht fällt dir bis dahin auch noch jemand ein, der gut in den Rat passen würde.«
Zum ersten Mal seit Monaten hatte der Böttchermeister das Gefühl, nicht mehr hilflos zu sein. Sie stießen auf das Gelingen ihres Vorhabens an und verabschiedeten sich kurze Zeit später.
Am Morgen des Pfingstsonntags herrschte im Hause des dünnen Georg reges Treiben. Am Vorabend hatte der Pfarrer der Blasienkirche Agnes ausgesegnet und die Beichte abgenommen, und nun würde sie das erste Mal seit Monaten wieder eine Messe besuchen. Die meisten ihrer Nachbarn nahmen an den Gottesdiensten in der Kirche unserer Lieben Frau Maria teil. Griseldis und Georg waren aber in der Viehgasse aufgewachsen, die zum Pfarrsprengel der Blasienkirche gehörte. Auch sie war in der Altstadt groß geworden, so ging sie zu den Messen in das Gotteshaus, in das ihr Mann, ihre Schwägerin und sie schon von Kindheit an gebetet hatten.
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