Agnes setzte sich auf das Bett und betrachtete ihre Schwägerin noch einmal genauer.
Sie hatte ein Funkeln in den Augen und konnte gar nicht mehr aufhören zu lächeln. Also war alles gut gegangen. Griseldis begann von allein zu erzählen.
»So etwas wie letzte Nacht habe ich noch nie erlebt. Ich hatte wirklich gedacht, dass die Alte nicht wusste, wovon sie sprach. Wenn mir vor dieser Nacht jemand gesagt hätte, dass ich mich nach den Umarmungen meines Mannes sehnen würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Und es hat nicht geschmerzt. Das erste Mal in unserer Ehe, dass ich mit Georg zusammen war, ohne dass ich schreckliche Schmerzen und Ekel empfunden habe. Ich werde nach dem Mittag in die Kirche gehen und eine Kerze stiften. Und heute Abend werden wir sicher nicht so lange bleiben können ...«
Sie gluckste in sich hinein und nahm Agnes den kleinen Konrad ab, der sich gerade satt getrunken hatte. Agnes freute sich mit ihrer Schwägerin. So Gott wollte, würden sie auch bald Eltern sein.
Die vergangenen Wochen waren ohne größere Ereignisse verstrichen. Am kommenden Sonntag sollte das Pfingstfest gefeiert werden. Bruder Jordan hatte alle Hände voll zu tun. Fünf seiner acht kranken Schützlinge starben in den letzten beiden Tagen. Sie waren rasend gewesen. Bruder Anselm und er hatten die vier Männer und eine Frau gepflegt. Man band sie mit Leinenstreifen an ihren Betten fest. Trotz dessen schrien sie vom Morgen bis in die Nacht hinein, dass man sie die gesamte Holzgasse hinunter hören konnte. Sie wandten sich vor Schmerzen. Auch der teure Mohnsaft half ihnen kaum.
Die Darmkrämpfe und Durchfälle wollten nicht weichen. Ihre Finger und Zehen wurden unter entsetzlichen Qualen schwarz und faulten ab. Einer der Männer verlor den gesamten rechten Arm auf diese Weise.
Die Mönche legten warme und kalte Wickel auf die Gliedmaßen der Kranken, doch kaum etwas hatte eine Linderung gebracht. Sie halluzinierten und starben schließlich. Es war einfach grausam.
Nicht zum ersten Mal hatte das Antoniusfeuer seine Opfer brennen lassen. Aber jedes Mal war es aufs Neue furchtbar und erschütterte alle Beteiligten bis ins Mark. Um die drei noch Lebenden, eine Frau und ihre beiden kleinen Töchter, stand es schlecht. Die vier und fünf Jahre alten Mädchen hatten schwarz verfärbte Hände und Zehen und lagen kraftlos und ausgemergelt von den vielen Durchfällen und Schmerzen auf ihren Liegen.
Der Vater, ein Filzmacher und Nachbar der Fuhrleute, war bereits tot. Er war derjenige, dessen rechter Arm abgestorben war. Eine ganze Familie wurde durch das Antoniusfeuer ausgelöscht. Die anderen drei Männer und die verstorbene Frau hatten als Lehrjungen, Geselle und Magd im Haus der Filzmacherfamilie gewohnt.
Der kleine Ordenspriester wusch die ausgelaugten Körper der Mädchen ein weiteres Mal.
Ihre Mutter, die auf der Schlafstatt neben ihnen lag, fing erneut an, hysterisch zu schreien. Sie warf den Kopf hin und her und kämpfte gegen etwas, dass nur sie wahrnahm. Die Arme, Beine und Hüfte waren mit dicken Leinenstreifen am Holzrahmen des Bettes festgebunden. Sie zerrte an den Fesseln und schrie immer lauter. Von ihrem Lager ging der saure Geruch ungewaschener Haut aus und vermischte sich mit dem Gestank von Kot und fauligem Fleisch.
Jordan stand von der Bettstatt der Mädchen auf und trat auf deren Mutter zu, als die Schreie plötzlich verebbten. Die Frau bewegte sich nicht mehr. Ihr Blick, der eben noch auf die Deckenbalken gerichtet war, war nun gebrochen. Der Ordenspriester spendete ihr die Sterbesakramente und schickte nach zwei der Sariantbrüder, die bei der Pflege der Kranken halfen. Die Tote wurde ein letztes Mal gewaschen und im Hinterhof neben die anderen Leichname gelegt.
Nachdem sich der Geistliche mit einem Stück Brot und verdünntem Wein gestärkt hatte, wand er sich wieder den kleinen Schwestern zu. Die jüngere der beiden hatte sich in den letzten Minuten still und leise davon geschlichen. Ihr Gesicht lag, auf dem Strohkissen, als schliefe sie friedlich, und hatte jede Spur des Schmerzes, den sie in den vergangenen Tagen durchlitten hatte, verloren.
»Am Ende war es Erlösung …«, flüsterte Jordan und spendete auch ihr die Sterbesakramente. Das letzte Waschen übernahm er hier selbst.
Die Schwester der Toten begann von neuem, sich hin und her zu werfen. Der Mohnsaft verlor seine Wirkung. Der müde Ordenspriester griff nach dem Fläschchen mit dem Elixier, goss ein wenig von dem schwarzen süßlich riechenden Sirup auf einen Löffel und flößte ihn dem Mädchen ein. Der Effekt trat kurz darauf ein, und die Gesichtszüge der Kleinen entspannten sich erneut. Nachdem der Mönch die Sariantbrüder angewiesen hatte, an der Schlafstatt des Kindes zu wachen, trug er den toten Körper ihrer Schwester zu den anderen Verstorbenen auf den Hof. Stumm betrachtete er die verstümmelten Gliedmaßen der Leichen. In den letzten Wochen war es dreimal zu solchen Ausbrüchen gekommen. Aber was führte dazu? Es war doch unmöglich, dass die Luft in einem Heim verdorben war und im benachbarten Haus nicht. Auch war bisher nicht bekannt, dass einer der Pflegenden nach dem Kontakt mit einem Erkranken ebenfalls krank geworden war. Blieb die schlechte Luft in der Heimstatt der Erkrankten?
Grübelnd machte er sich auf den Weg zurück zu der Todkranken. Sie lag mit ihrem aufgetriebenen Bauch auf dem Lager und schlief unruhig. Bruder Jordan trat zu dem Mädchen, kniete sich vor die Bettstatt und fing an zu beten.
Als er seine Gebete beendet hatte, griff er erneut nach dem Tuch, tauchte es in die Schüssel kalten Wassers, wrang es aus und begann, den Körper der Kleinen abermals zu waschen. Sie öffnete die Augen, lächelte und schloss sie wieder. Danach tat sie ihren letzten Atemzug. Er spendete auch ihr die Sterbesakramente, beendete seine Waschung und trug den Leichnam nach unten zu den anderen. Er wollte einen der Mönche darum bitten, dem Totengräber Bescheid zu geben, überlegte es sich aber und machte sich selbst auf den Weg.
Die kühle Morgenluft tat ihm gut. Er atmete sie tief ein,
mit dem Bewusstsein am Leben zu sein.
Griseldis war schon das zweite Mal an diesem Morgen wach geworden. Ihr war unendlich übel. Beim ersten Mal hatte sie sich nicht übergeben müssen, aber nun konnte sie nicht mehr länger liegen bleiben, sondern lief zum Waschtisch und erbrach sich in die Waschschüssel.
Georg war seit gestern mit ihrem Bruder unterwegs nach Eisenach. Sie war froh, dass er sie in dem Elend nicht sah. Ob sie etwas Verdorbenes gegessen hatte? Hoffentlich erging es Georg nicht ebenso.
Sie setzte sich wieder auf das Bett und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Knie zitterten, aber sie fühlte keine Übelkeit mehr und hatte sogar richtig Hunger. Heute würde sie nicht warten, bis ihre Schwägerin das Frühstück zubereitet hatte, sondern wollte sich selbst eine Kleinigkeit kochen.
Nachdem die Knie aufgehört hatten zu zittern, warf sie sich einen Umhang über und ging durch den Stall auf den Hinterhof. Sie sammelte die Eier im Hühnerstall ein und schnitt sich ein bisschen Schnittlauch vom Kräuterbeet ab. Danach holte sie einen Schinken aus dem Keller und nahm einen halben Laib Brot aus dem Vorratsschrank. Sie schlug die Hühnereier auf und briet sie unter Rühren. Dann streute sie Salz und die Kräuter darüber und aß die komplette Portion, drei Scheiben des Brotlaibs und ein großes Stück Schinken. Die Übelkeit war verflogen und so verschwendete sie keinerlei Gedanken mehr daran.
Nachdem sie die Wohnkammer wieder aufgeräumt hatte, sammelte sie ihre Wäsche zusammen und ging nach nebenan zu Agnes.
Nach kurzem Anklopfen trat sie ein. Lena hatte schon einen großen Waschzuber aufgestellt und kochte zum wiederholten Mal Wasser über dem Herdfeuer. Agnes hatte ihre Wäsche bereits in dem heißen Waschwasser eingeweicht, und Griseldis tat es ihr gleich. Es würde ein anstrengender Tag werden. Schon jetzt war die Hitze in der Kammer unerträglich.
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