Jane fand den Trotz in ihren Gesichtern bewundernswert. Sie entdeckte bei den Menschen Kishons eingefallene Wangen, müde, leere Augen, Narben und entzündete Wunden. Mangelernährung, Dehydrierung und schlechte Hygiene – nichts davon vermochte den Widerstandswillen der Chardoni zu brechen. Selbst jetzt spotteten sie noch über Freund und Feind.
»Wer hat Euch unsere Ankunft gemeldet?«, fragte Veyron. Mit skeptischem Blick trat er vor den Anführer der Chardoni.
»Ich war das, Meister Swift«, erklang die Antwort aus den hinteren Reihen der Krieger. Sofort wurde der Urheberin der Stimme Platz gemacht.
Jane staunte nicht schlecht, als sie die junge Jadekaiserin erkannte, nun nicht mehr in majestätischer Aufmachung, sondern im Panzerhemd aus versilberten, rechteckigen Plättchen und mit langem Schwert an ihrem Waffengurt.
»Li Su«, rief Tom überrascht und grinste von einem Ohr zum anderen. »Solltest du dich nicht auf dem Weg nach Quin befinden?«
Die junge Kaiserin lächelte etwas verlegen. »Es war sehr freundlich, von König Floyd, mir seine Flugmaschine auszuleihen. Ich hatte Zeit, nachzudenken, und schließlich entschied ich mich, Kishon zu helfen. Captain Beall war so freundlich, den Kurs zu ändern, nachdem ich ihm mein Anliegen erklärte, und vorige Nacht erreichten wir Hangmatana. Wir machten auch die Anzac-Clipper startklar, die zuvor Großkönig Kurasch bei seiner Festung abgesetzt hatte, und gestern Mittag erreichten beide Maschinen die Grenzen Quins. Wir luden eine Armee meiner besten Truppen an Bord und flogen hierher. Die beiden Flugschiffe warten unten am Fluss«, erklärte sie und deutete nach Norden. »Zwanzig Kilometer von hier. Wir verbrachten die halbe Nacht damit, meine Leute durch die Reihen der Schwarzen Horde zu schmuggeln. Dank der geheimen Tunnel der Chardoni gelang uns das ohne Zwischenfälle.«
Jane blickte hinauf zu den Zinnen der angeschlagenen Stadtmauer. Alle Gesichter dort oben waren von relativ dunkler Hautfarbe, einige alt, andere junge, manche vernarbt, andere glatt und hübsch. Nirgendwo machte sie auch nur einen Krieger aus, den sie Li Sus Reich zuordnen konnte.
»Und wo sind deine Leute?«, fragte auch Tom sie verwirrt.
Li Su lächelte listig und deutete in die Stadt. »Folgt mir. Ich werde es euch zeigen.«
Als die Allianz der Verlorenen in die Stadt einzog, schlug ihnen statt Jubel wie in Kadingira nur verhaltene Hoffnung aus den müden und angespannten Gesichtern entgegen. Die anfängliche Neugier und Euphorie war verflogen, und nur da, wo Ardaschir seinen Leuten ein Zeichen gab, wurde gejubelt oder erhob sich Gesang. Jane merkte sofort, wie niedergeschlagen und erschöpft die Menschen dieser Stadt waren. Die rebellischen Chardoni, sie standen kurz vor dem Ende.
Ardaschirs Lächeln war verschwunden. »Früher, da war die Gegend um Kishon ein grünes Land, saftiges Gras und Strauchwerk. Dann kam die Schwarze Horde und brannte alles nieder, machte die Luft heiß und stickig, als wollten sie uns ausräuchern. Nach wenigen Tagen blieb nichts zurück als Wüste. Spreng- und Feuerbomben schleuderten sie mit ihren Katapulten auf uns, monatelang, Nacht für Nacht. Sie bombardieren uns immer nur nachts. Vielleicht, weil sie sich am Schein der Feuer erfreuen. Wer weiß das schon bei den Dreckskerlen der Schwarzen Horde. Kein einziges Haus blieb von der Zerstörung verschont. Wir hocken nur noch auf Ruinen, unter denen unsere Liebsten begraben liegen. Doch am Schlimmsten war es, als sie uns die Toten über die Mauern schleuderten, Tausende verstümmelter, halb verwester Körper. Nicht nur getötete Chardoni, auch die Leichen ihrer eigenen Krieger und die Kadaver verendeter Tiere. Krankheiten breiteten sich aus, Ratten und Fliegen feierten ein Fest. Früher hatte Kishon zehntausend Einwohner, jetzt sind es nur noch dreitausend. Sämtliche Leichen mussten wir verbrennen, um die Seuchen einzudämmen. Wer Anzeichen von Krankheit zeigte, wurde eingemauert. Die Horde zwang uns, an unserem eigenen Volk Grausamkeiten zu begehen, um die Gesunden zu retten. Viele Menschen flohen deshalb aus der Stadt. Doch wohin? In die Arme der Schwarzen Horde. Und tags darauf kamen sie alle wieder. Im hohen Bogen über die Mauern geflogen, erdrosselt, enthauptet oder bei lebendigem Leib verbrannt. Das, was ihr hier seht, ist von uns Verteidigern noch übrig, viele mit den Kräften am Ende«, erklärte der Xatrapavan . Jetzt schwangen Resignation und Verzweiflung in seiner Stimme mit. »Die Horde will uns gründlicher ausrotten als unser Erzfeind Hatti.«
Li Su führte die ›Allianz der Verlorenen‹ die Stadtmauer hinauf. Von den Zinnen hatte man einen hervorragenden Blick auf das Lager der Schwarzen Horde, hinter deren schwarzen Zelten eine Reihe titanenhafter Katapulte stand, die viele hundert Kilo schwere Ladungen über weite Distanzen schleudern konnten. Oben auf den Mauern hatten die Chardoni eine ganze Reihe hölzerner Kisten aufgestellt, an die vierhundert Stück, überschlug Jane. Jede maß etwa einen Meter auf einen Meter, perfekte Würfel. Jane fiel auf, dass sie den Boden gar nicht berührten, sondern wie von Magie gehoben einige Millimeter über dem Boden schwebten. Die Kisten trugen Schriftzeichen aus Quin; keine zwei dieselbe Beschriftung. Verwirrt wandte sich Jane an Veyron, in der Hoffnung er habe ein paar Antworten parat.
»Das ist eigentlich vollkommen unmöglich«, fasste allerdings Wimille Janes Gedanken zusammen. »Wie können diese Kisten schweben? Ich sehe weder Energiegeneratoren noch irgendeine Form von Magnetismus am Werk.«
»Uralte Drachenmagie, Mr. Swift«, sagte Nagamoto. »Die Drachenkaiser hatten früher stets solche Kisten in ihrem Reisetross dabei. Sie können mit vielen Tonnen Gewicht beladen werden, das sich durch den Schwebezauber relativiert. Reicht Ihnen das vorerst als Erklärung?«
Wimille verzog das Gesicht. »Natürlich nicht, Sir! Ich wünsche, eine dieser Kisten genau zu untersuchen, sobald das hier vorbei ist. Immer diese hanebüchenen Erklärungen von Zauberei und magischen Tricks! So kommt man doch nicht weiter«, beschwerte er sich.
Seine Haltung entlockte Jane ein amüsiertes Lächeln. Wer hätte gedacht, dass es noch einen pedantischeren Menschen gab als Veyron?
Li Su rief den nahestehenden Kriegern einen Befehl auf Chardonai zu. Je zu viert packten die Chardoni eine Kiste, stemmten sie mit Leichtigkeit über die Zinnen und kippten sie um. Von ganz allein flogen die Deckel auf und gaben ihren Inhalt preis: roten Sand und haufenweise alte Waffen.
»Das ist ein Witz«, meinte Jane, aber so ziemlich alle anderen schauten ähnlich verblüfft drein. Sie sahen zu, wie sich der Sand am Boden zu Häufchen sammelte.
Nun wandte sich Li Su an Wimille und fasste ihn tröstend an der Hand. »Ich fürchte, ich muss Euch nun eine weitere Grausamkeit antun. Noch mehr Magie, die Ihr mit Eurem logischen Verstand nicht verstehen werdet«, sagte sie, ehe sie sich wieder den Zinnen zuwandte. Sie beugte sich über das Mauerwerk und gab ein Brüllen von sich, das man ihrem feingliedrigen, zerbrechlich wirkenden Körper nicht zugetraut hätte. Jedes Löwengebrüll verkam dagegen zum Maunzen eines Kätzchens. Die Stadtmauer Kishons vibrierte unter dem Gebrüll der Jadekaiserin.
Was nun geschah, ließ sie alle verwundert die Augen reiben. Aus den roten Sandhaufen erhoben sich Gestalten, menschengleich, Krieger aus rot gebrannter Keramik. Mann für Mann standen sie auf, wuchsen mit dem Kopf voran aus dem Sand, wurden zu vollständigen Soldaten, gerüstet mit Panzerhemden, Schwertern, Hellebarden, Speeren, Pfeil und Bogen, Armbrüsten und Schilden. Eine ganze Armee Terrakotta-Krieger marschierte vor der Stadtmauer Kishons auf, in den ersten Reihen Bogenschützen und Lanzenkämpfer, gefolgt von schwerer Infanterie mit Hellebarden und breiten Schwertern. Mit jedem Schritt, den sie machten, wurden die Krieger menschlicher, ihre Haut gewann einen gesunden, rosigen Schimmer, die Kleider der Offiziere färbten sich violett, die der niederen Ränge rot, blau und gelb. An den Flanken tauchten schwer gepanzerte Reiter mit Helmen aus überlappenden Metallplättchen auf. Streitwagen rollten in Stellung, gezogen von zwei oder vier Pferden, je nach Einsatzzweck.
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