Mein Gott, dachte Marie-Claire kopfschüttelnd, wie recht sie hatte! Und seit dieser Zeit kam es immer wieder zu Handgreiflichkeiten, immer wieder musste sie herhalten, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Gründe gab’s genug, ganz egal ob es ein aufmüpfiger Schüler aus seiner Klasse war, Eltern die seine Lehrmethoden kritisierten, oder Stänkereien im Lehrerkollegium. So auch am Tag zuvor, wo er wieder einmal Luft ablassen musste. Das fing schon damit an wie sie ihren Wagen in der Einfahrt parkte, später zogen sich dann die Nörgeltiraden: Wieso dies? Weshalb jenes? Warum das denn?, querbeet durch den ganzen Tag, und so hielt sie es ganz nach dem japanischen Sprichwort der drei Affen: nichts (Böses) sehen, nichts hören, nichts sagen! So gut wie es eben möglich war, versuchte sie ihm aus dem Weg zu gehen – das Unvermeidliche ließ sich jedoch nicht aufhalten. Während sie im Bad war, hörte sie ihn zähneknirschend fluchen: „Ja ist das denn die Möglichkeit! Ausgerechnet dieser Dumpfbacke! Der denkt wohl, nur weil sein Vater Rechtsanwalt ist, könne er sich alles erlauben ...“ Durch den Türspalt konnte sie erkennen, dass er im Bett seine E-Mails checkte, und so wie sie es interpretierte musste es wohl um eine angestrebte Klage eines Schülers gehen. Oh, sie hasste es, wenn er sein iPad mit ins Bett nahm, er sich solche Hiobsbotschaften reinzog und danach den Choleriker hervorkehrte. Genervt von seinem Geschimpfe war sie in ihr kuscheliges Schlapper-Nachthemd aus grauem Jersey-Stoff geschlüpft, sie zog ihre warmen Wollsocken an und huschte, in der Hoffnung nicht gesehen zu werden, aus dem Bad direkt unter die Bettdecke. Ihr war nach Schlaf und absoluter Ruhe. Leider hatte sie die Rechnung ohne Eugen gemacht. Kurzerhand hatte er ihre Bettdecke zurückgeschlagen und entsetzt das Bild angestarrt das sich ihm präsentierte. Und plötzlich wurde sie – in ihrem weiten altbackenen Großmutterhemdchen – so wie er es abfällig bemerkte, zum Angriffspunkt. Er verhöhnte und demütigte sie, er bombardierte sie mit Worten die ihr den Atem raubten. Doch dann geschah etwas, was sie niemals für möglich gehalten hätte. Zum ersten Mal während ihrer Ehe war sie über sich hinausgewachsen. Lautstark und in aller Deutlichkeit hatte sie ihm ihre Meinung über sein Verhalten gesagt, sie hatte ihm angedroht ihn zu verlassen, wenn er sich nicht ändern würde – das war’s! Danach hatte er sie im Schlafzimmer eingeschlossen, sie geschlagen, beschimpft und als Höhepunkt seiner Machtdemonstration vergewaltigt.
Die Zeit danach hatte sie in einem Art Schock-Zustand verbracht und erst, als er am frühen Morgen das Haus verlassen hatte, war sie wieder sie selbst.
Und im Gegensatz zu seinen sonstigen Misshandlungen, hatte er sich dieses Mal nicht entschuldigt, auch kein Süßholz als Wiedergutmachung-Taktik geraspelt, sondern er ist wortlos gegangen, auch die Haustür fiel geräuschlos ins Schloss, gerade so, als ob es das Normalste auf der Welt wäre seine Frau zu demütigen, zu schlagen und zu vergewaltigen. Nach dieser Begebenheit hatte sie für einen Augenblick darüber nachgedacht ihn anzuzeigen – doch was sollte sie den Polizeibeamten sagen? Mein Mann, ein Gymnasiallehrer und angesehener Bürger der Stadt, der Hilfsorganisationen leitet, Mitglied im Gemeinderat ist, hat seine eigene Frau geschlagen und anschließend vergewaltigt. Vergiss es, ermahnte sie ihr nüchterner Verstand, sie würde sich selbst nur nochmals erniedrigen, sich der Lächerlichkeit preisgeben und ihrem Mann weitere Angriffsflächen bieten. „Großer Gott“, flehte sie leise, „bitte hilf mir von ihm wegzukommen.“ Nein, ihre Ehe war nur noch eine schöne Fassade mit irreparablen Schäden.
Irgendwann in den frühen Abendstunden hörte sie ihre Mutter in der Küche hantieren, feine spitze Geräusche deuteten darauf hin, dass sie die Geschirrspülmaschine am Ausräumen war. Endlich Abwechslung, dachte Marie-Claire, doch als sie die Küche betrat, war die Arbeit erledigt und einige belegte Brote standen auf dem Tisch.
„Geht es dir wieder besser?“, fragte Marie-Claire.
„Alles im grünen Bereich“, antwortete Ella in ihrer gewohnt schrulligen Art, „eine deutsche Eiche fällt nicht so leicht.“
Mit Blick auf die Brote gerichtet fragte Marie-Claire: „Und du, isst du nichts?“
„Ich hab ein Brot aus der Hand gegessen und dazu ein Bier getrunken. Das reicht.“
„Warst du in letzter Zeit mal beim Arzt und hast dich durchchecken lassen?“
Entsetzt sah ihre Mutter sie an. „Nun übertreib mal nicht, nur weil ich heute nach der Gartenarbeit, bums und alle war, muss ich nicht gleich krank sein“, gab sie barsch zurück.
„Naja, ich meine“, druckste sie, „vielleicht könnte ich dir ja bei der Gartenarbeit oder auch im Haushalt behilflich sein!“
„Du!“, dabei sah Ella ihre Tochter ungläubig an, fasste nach ihren äußerst gepflegten Händen – die noch nie mit einem Spaten oder ähnlichem Gartengerät in Berührung gekommen waren – und sagte: „Lass mal gut sein, solange ich japsen kann, werde ich das selbst erledigen.“ Mit besorgter Miene sagte sie: „Kümmere du dich mal lieber um deine Ehe und um dein zukünftiges Leben, da hast du vorerst genug zu tun.“
„Ach Ella“, seufzte sie, dabei umarmte und küsste sie ihre Mutter, „auch wenn du so ein grantiges Mütterchen bist, so liebe ich dich dennoch.“
„… iss ja gut“, gab sie verlegen zurück und stieß sie wieder auf Distanz.
Marie-Claire setzte sich an den Tisch, neigte den Kopf leicht zur Seite, sah ihre Mutter lieb an und fragte: „Bleibt es morgen früh dabei? Begleitest du mich?“
„Hab ich je mein Versprechen nicht gehalten?“
Marie-Claire dachte plötzlich an eine Begebenheit aus ihrer Schulzeit, lächelte und sagte: „Erinnerst du dich noch an Carl, den Jungen aus meiner Klasse …?“
Beide sahen zunächst stumm einander an, doch als dann beide die gleiche Szene vor Augen hatten, mussten beide schmunzeln.
Der kleine Carl hatte es darauf angelegt Marie-Claire zu ärgern: mal versteckte er ihre Sportsachen, mal ihre Schulhefte, ein anderes Mal musste ihr Taschengeld dran glauben, doch als er sie eines Tages in eine Pfütze schubste und ihren Kopf solange in die Brühe drückte, dass sie fast erstickt wäre, da hatte er es übertrieben.
Ihre Mutter hatte ihn daraufhin zur Rede gestellt, und zur Verdeutlichung ihrer Worte, hatte sie ihn, mithilfe seines Schulterranzens, an einem der Gartenpfosten neben dem Eingangsportal des Schulgebäudes aufgehängt.
„Meine Güte“, lachte Marie-Claire unvermittelt auf, „dem hast du es damals aber gegeben, noch heute sehe ich ihn am Gartenpfosten hängen und zappeln!“
Jetzt musste auch Ella lachen, „ja, ja,, entgegnete sie, „der kleine Carl war äußerst widerborstig, er spuckte und trat, doch als er dann so hilflos an dem Pfosten hing, ging ihm sein kleines Hinterchen auf Grundeis.“
„Hast du ihn später befreit?“
„Nein“, grinste sie in Erinnerung, „ich hatte eine Vereinbarung mit dem Pedell getroffen, denn auch er hatte noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen, er ließ ihn so lange hängen bis er Besserung gelobte. Naja, jedenfalls hatte er dich danach in Ruhe gelassen.“
„Hm, ich hoffe doch nicht, dass du mit Eugen genauso verfährst“, witzelte Marie-Claire.
Ihre Mutter sah sie mit ernster Miene an und sagte: „Bei ihm würde mir mit Sicherheit etwas Besseres einfallen, glaub mir“, und somit war der anfängliche Galgenhumor so schnell entschwunden wie er gekommen war.
Während Marie-Claire ihre Brote aß, beobachtete sie ihre Mutter die gedanklich mal wieder in ihrer Vergangenheit unterwegs war. Schon als Kind hatte sie darüber gerätselt was ihr da wohl durch den Kopf gehen mag.
Zuerst saß sie ganz still und mit gesenktem Blick da, hin und wieder huschte ein Zucken über ihre Mundpartie, manchmal kam es aber auch vor, dass sie ihre Lippen fest zusammengepresst hielt und in dieser Position eine Zeit lang verharrte, danach schüttelte sie den Kopf, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte: „So genug der Grübelei!“
Читать дальше