Auf seinem großen Handteller lag ein wunderschöner kleiner Hund. Mit welligen Haar und einem entzückenden Halsband. Über sich selbst erstaunt schüttelte er nur den Kopf und steckte die zarte filigrane Figur in seine Jackentasche.
3. Dezember - Jessica
Irgendwo in einer mittleren Großstadt in Deutschland
Sabine hatte ihr wirklich keine Freude mit der Tatsache gemacht, dass die Weihnachtsfeier eine Pflichtveranstaltung war. Schon gar nicht mit der Wichtelei.
Zwei Stunden hatte sie dafür gestern Abend geopfert und sich durch verschiedene Seiten im Internet gekämpft. Manche Seiten haben sie beinahe zum Erbrechen gebracht – so viel Schnulzerei.
Eine glorreiche Idee hatte sie natürlich nicht gefunden. Ärgerliche Zeitverschwendung.
Sie hatte absolut keinen Plan, was sie in das Päckchen stecken sollte. So unangenehm, es war, sie musste unbedingt nochmal mit Sabine darüber sprechen.
Für ihre Eltern gab es seit Ewigkeiten Standardweihnachtsgeschenke. Ihre Mutter bekam einen Online-Gutschein für ihren E-Book-Reader, Vater ein Gutschein für den Baumarkt nahe ihres Wohnortes und ihre Brüder jeweils die Verlängerung von den so geliebten Stadionkarten. Einzig und allein für ihre kleinen Lieblingszwerge kaufte sie individuelle, meist lehrreiche und teure Geschenke. Sie mochte ihre Nichten, Resi und ganz frisch Paula, und Neffen, Steffen und Max.
Jetzt saß sie wieder hier in ihrem Büro und versuchte krampfhaft, sich auf die Blätter und Zahlen vor sich zu konzentrieren. Es war ihr erstes Jahr hier in der Firma, das hieß, in der Weihnachtszeit, Wochenenddienst. Zum Jahresende drehten die Firmen mit ihren Abrechnungen leicht am Rad. Es gab aber einen netten Bonus dafür, deshalb war das nicht unbedingt ein Problem.
Ständig schlich sich jedoch dieses dumpfe Gefühl in ihren Kopf. Es machte sie auf unerklärliche Weise sehr traurig. Schwammige Gedankengänge, lose Fetzen, die nicht immer einen Sinn ergaben. Verschiedene Weihnachtsfeste liefen wie auf einer Kinoleinwand wieder und wieder ab. Ihre Familie fröhlich miteinander vereint. Einige Szenen aus ihrer Kindheit, wo die Welt um sie noch in Ordnung war, dann welche aus ihrer Jugend, wo sie ab und an leicht rebellierte. Und dann die Feste aus den letzten Jahren. Die, wo sie alleine am Tisch saß, wehmütig aus dem Fenster stierte und sich meilenweit wegwünschte.
Tief atmete sie ein, auf so einen Scheiß hatte sie jetzt absolut keinen Bock.
Energisch schüttelte sie den Kopf und hoffte so, all die unmöglichen Gedanken loszuwerden.
„Ich hoffe, du schüttelst nicht über deine Abrechnungen den Kopf. Wir bekommen sonst echt Probleme, wenn die bis Nikolaus nicht stimmen!“ Ohne das Jessica es bemerkt hatte, stand Sabine in der offenen Tür.
Es war wirklich an der Zeit, etwas zu ändern, sich etwas einfallen zu lassen. So konnte es definitiv nicht weitergehen. War sie schon so verpeilt, dass sie es nicht bemerkte, wenn jemand in den Raum kam? Also wirklich ...!
„Das würde mir jetzt noch fehlen .... Nein, ich wollte ...“, sie kam gar nicht erst dazu, ihren Satz zu beenden.
„Puh – Glück gehabt! Denn denke dran, lauter wichtige Männer!“ Verschwörerisch wurde ihr zugezwinkert.
Jessica gab sich große Mühe, ihr Grinsen nicht zu einer Grimasse verkommen zu lassen. Als ob das ihre maßgeblichen Gedanken gewesen wären. Innerlich verdrehte sie die Augen. Ein kleines „Weiber“ durchkreuzte ihr Denken und ließ sie schmunzeln. Konnte sie nicht froh sein, nicht zu dieser Gattung zu gehören? Ein Hauch eines spöttischen Lächelns huscht über ihr Gesicht.
„Nein – keine Angst, die Abrechnungen sind korrekt und fast alle durchgearbeitet. Ich wollte dich eigentlich, um einen anderen Gefallen bitten.“ Über den Schreibtisch hinweg schaute sie Sabine an.
Jetzt war es an Sabine aufzuhorchen, kam näher an den Tisch. Neugierig blitzen ihre Augen auf. Die zurückhaltende Jessica hatte sie bisher noch nie um etwas gebeten.
„Wie kann ich dir helfen?“ Neugierde und Spannung standen in ihrem puppengleichen Gesicht.
„Du weißt, doch – ich habe bei dem Wichtellos Tanja gezogen. Aber ich habe nicht die blasseste Ahnung, was ich ihr in das Päckchen legen soll.“ Eine hilflose Geste begleitete diese Aussage.
„Ach ...“, war da eine leichte Enttäuschung in ihrer Stimme und etwas davon auch in ihrer Mimik zu lesen? Eine wegwerfende Handbewegung ausführend, drehte sie sich um. „Wenn das alles ist.“ Damit ging sie zur Tür, „... reden wir doch nachher in der Kaffeepause darüber.“ Und sie war zur Tür hinaus in den großen Flur verschwunden.
Jessica fühlte sich unvermittelt allein gelassen. Aus unerklärlichen Gründen wünschte sie sich, dass Sabine zurückkam, einen Kaffee in der Hand hielt und sie sich über das Thema Tanja unterhalten könnten. Oder jedes sonstige Problem.
Kurz wollten die schwammigen Gedanken wieder von ihr Besitz ergreifen. Schnell konzentrierte sie sich auf ihre Arbeit und ließ alle anderen ablenkenden Überlegungen außen vor.
Irgendwo in einer kleinen sehr ländlichen Stadt
So wie es aussah, hatte sich seine Mutter nach ihrer etwas nervenaufreibenden Auseinandersetzung wieder beruhigt. Zumindest hatte sie ihn heute zum Brunch eingeladen. Im Stillen hoffte er, dass sie nicht dieselbe Angelegenheit ausdiskutieren wollte. Inständig wünschte er es sich.
Nicht genug, dass er sich die letzten zwei Tage wirklich darüber Gedanken gemacht hätte. Natürlich möchte er sie glücklich sehen, ihr ihren wichtigsten großen Wunsch erfüllen. Hatte er moralisch denn überhaupt eine Chance, „nein“ zu sagen? Sein Großvater musste ihn auch noch auf ihre Angst aufmerksam machen – klasse, genau was er gebraucht hatte. Schuldgefühle setzten sich in ihm fest. Er konnte seinem Opa nichts vorwerfen.
Über sein neustes Werkstück gebeugt führte er seine Werkzeuge sorgfältig über das Holz. Wie war es möglich, dass er nicht einmal auf den Plan blicken musste, das fertige Werk aber genau dem entsprach?
Er liebte seine Arbeit. Seine Gedanken flogen dahin, frei wie die Vögel, die in den Kronen der Bäume genistet hatten, bevor sie in seine Werkstatt kamen.
Wie ein Irrer versuchte er, auf eine Lösung zu kommen. Jegliche Szenarien stellte er sich vor. Sollte er ein Inserat aufgeben? Sollte er eine Agentur in Anspruch nehmen? Oder gar (er glaubte selbst nicht, dass er auf so eine Idee kam) eine Frau aus einem Katalog aussuchen?
Gott – nein!
Eigentlich wollte er mit diesen Ideen zu seiner Mutter gehen und sagen „Schau – wie weit du mich gebracht hast!“ Nur, als guter Sohn verwarf er augenblicklich dieses Vorgehen.
Während er so dasaß und über eine Lösung des Problems grübelte, klingelte sein Handy. Er brauchte kurz, um zu orten, wo er es hingelegt hatte, schob den Deckel zur Seite und stöhnte kurz auf. Nicht das auch noch. Wenn er nicht den Button von Rot auf Grün schieben würde, bräuchte er nicht mit ihr zu sprechen. Nach einem weiteren Klingeln ergab er sich dem Handy. Auf seinem Stuhl sackte er in sich zusammen, hob seine Hand, fingerte nach dem Telefon und schob den Button auf Grün.
„Schön, dass du auch mal an dein Handy gehst!“ Eine verschnupfte weibliche Stimme blaffte ihn an. Trotzdem konnte er ihr nicht böse sein.
„Süße, hin und wieder arbeite ich – schließlich muss einer dieses Geschäft am Laufen halten!“ Sein brummiger gutmütiger Ton schien die weibliche Stimme am anderen Ende nicht zu beruhigen.
„Warte – ich bedauere dich! Du armer großer Bruder, der allmächtige Arbeiter in deiner Firma .... Komm runter. Ich muss dringend mit dir reden!“ Nicht noch ein Weibsbild aus seiner Familie, dass ihn nicht in Ruhe lassen konnte. So lieb und gern er alle beide hatte - seine Mutter und seine Schwester - sie konnten ganz schön nerven.
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