Wir verbrachten relativ viel unserer Freizeit gemeinsam. Und da Marion etwas außerhalb wohnte, übernachtete sie an den Wochenenden gerne bei mir. Wir gingen in angesagte Diskotheken, hatten Spaß, tranken viel und nahmen gelegentlich Genussmittel zu uns, die unter dem Namen Partydrogen gehandelt wurden. Anfänglich störte mich die Häufigkeit, in der sie das Zeug nahm, da sie immer etwas einstecken hatte, merkte aber bald, dass sie mit mir weit weniger einschmiss als ohne mich. Nun, sie war kein Kind mehr und musste selber wissen, was sie tat, zumal sie Bevormundungen verabscheute. Dennoch behielt ich sie im Auge.
Die Freundschaft mit Marion tat mir auch in der Arbeit gut, denn dort wurde ich inzwischen ganz schön gemobbt. Die Kollegen glaubten, bei Mark hintenanzustehen, und nervten damit sowohl ihn als auch mich grenzenlos. Marion, die nur darauf wartete, ihr Praktikum bei „K-Messe“ abzuschließen, um dem verhassten Job endlich den Rücken kehren zu können, verstand meinen Unmut diesbezüglich bestens. Sie konnte die Leute dort pauschal nicht ausstehen und plante mal wieder einen beruflichen Wechsel – Journalismus sollte es dieses Mal werden.
Ich erzählte ihr relativ offen von der Sache mit Mark, soweit man das als „Sache“ bezeichnen konnte. Was ich allerdings für mich behielt, war die Info, wie tief ich bereits in dieser Gefühlsduselei steckte. Sie ging also davon aus, dass wir befreundet waren und die Anderen sich den Rest der Gerüchte schlichtweg nur zusammenreimten. Gerne hätte ich ihr mehr verraten, traute mich aber nicht. Es war so schon kompliziert genug. Denn: Je besser Mark und ich uns verstanden, desto eifersüchtiger wurde meine Abteilung, und in dem Zusammenhang nahmen auch die spitzen Bemerkungen mir gegenüber zu. Von daher zog ich mich immer mehr zurück, in der Hoffnung, mich auszublenden und den Jungs kein weiteres Futter zu liefern.
Der reizenden Gerlinde kam ich allerdings nicht so einfach aus. Seit der Messe hatte meine Antipathie ihr gegenüber deutlich zugenommen. Doch wie geht man seiner Chefin längerfristig aus dem Weg?
Privat schien sie – wie Mark erzählte – ganz in Ordnung zu sein, in der Firma zeigte sie sich im Gegensatz dazu als wahre Tyrannin. Denn hatte Frau Sackser einen schlechten Tag, wollte sie diesen grundsätzlich mit all ihren Angestellten teilen – frei nach dem Motto: „Geht’s mir schlecht, soll es euch auch schlecht gehen!“
Ihre Gefühlsausbrüche donnerten meist so unerwartet über einen herein, dass jeglicher Schutz zu spät kam. Vergleichbar mit dem Aprilwetter sahen wir meist nicht einmal, wie sich die Wolkendecke zusammenzog, es prasselte einfach los, und der Überraschungseffekt gehörte ihr.
Bildlich stellte ich mir das so vor: Jeder von uns bekam mit dem morgendlichen Aufwachen einen Gute-Laune-Ballon vom Leben geschenkt – ähnlich einem Luftballon. Dieser Ballon begleitete einen bis zum Abend, schwebte unsichtbar neben einem und brauchte höchste Achtsamkeit. Er war nur durch ein dünnes Schnürchen mit seinem ganz persönlichen Menschen verbunden, meist am Handgelenk befestigt, und würde dieses Band reißen, würde der Ballon davonfliegen. Gleichzeitig bestand immer die Gefahr, dass er platzte – weswegen man doppelt aufpassen musste. Es gab ja nur einen pro Tag.
Wir reden also von einem Geschenk, das wohlbehütet sein wollte. Wichtig dabei war außerdem, wenn man in der Früh, verschlafen und nichts Böses ahnend, in die Firma kam, zu vermeiden, Frau Sackser in die Arme zu laufen, denn diese betrat die Räumlichkeiten meistens bewaffnet bis unter die Hutkrempe.
Zu ihrem Handwerkszeug gehörten beispielsweise kleine spitze Steinchen und ein Strohhalm. Störte man ihre Kreise, benetzte sie erst ihre Lippen kurz mit der Zunge, bevor sie sorgsam das Röhrchen in den Mund nahm. Dann legte sie einen der Kiesel hinein und spuckte diesen mit voller Wucht in Richtung eines Ballons. Vorzugsweise natürlich von einer Person, die ihr gerade quer im Hals steckte.
Dabei konnte man in ihrem Gesicht weder Spaß am Spiel noch einen Funken Humor erkennen. Gerlindes Blick spiegelte eher eine aggressive Form von Besessenheit wider, wie man sie von einem Pitbull kennt. Sie wollte um jeden Preis die Ballons ihrer Angestellten zerstören, um mit ihrer schlechten Stimmung nicht alleine dazustehen.
Und jetzt raten Sie mal, wie hoch ihre Trefferquote war! Gerlinde traf zuverlässig jedes Mal, begleitet mit dem Satz: „Nehmen Sie es nicht persönlich!“. Einfach unglaublich! Wegrennen oder sich schützend vor das Heiligtum zu schmeißen, zählten zu den üblichen Gegenmaßnahmen – leider immer zu spät. Laut zerplatzte auch mein Ballon regelmäßig, und weg war sie, die gute Laune. Mit offenem Mund und aufgerissenen Augen sah man erschüttert zu, wie die Gummireste langsam zu Boden segelten, dort geräuschlos landeten – reduziert auf ein Abfallprodukt.
Auch Mark fühlte sich von jenen Attacken zeitweise extrem genervt und ließ immer häufiger Kommentare wie „Lange mache ich das nicht mehr mit“ fallen. Allerdings muss man dabei – der Vollständigkeit halber – auch sagen, dass er sich beim Zusammentreffen mit Gerlinde häufig einfach äußerst ungeschickt anstellte. Nicht, dass er seinen Ballon ebenso gut hätte verstecken können, nein – Mark hielt ihn der Angreiferin mit ausgestreckten Armen bereitwillig unter die Nase. Frau Sacksers Jagdtrieb fühlte sich dadurch aber empfindlich gestört und wenig ernst genommen, was ermüdende Diskussionen nach sich zog. Und erst nach ausgedehnten Wortgefechten drehte sie sich im Gehen nochmals zu Mark herum und spuckte entspannt seinen Ballon kaputt. Allein bei ihm brachte sie dabei erstaunlicherweise sogar ein Lächeln zustande.
Marks Bemerkung, „K-Messe“ möglicherweise zu verlassen, trieb mir förmlich den Angstschweiß auf die Stirn. Bedeutete das, dass er vorhatte zu kündigen? In welchem Zeitrahmen? Und was wäre dann? Was sollte ich in der Firma ohne Mark? Auch wenn mein Tätigkeitsfeld unverändert bleiben würde, so blieben die Kollegen doch dieselben, und die Chefin blieb mir natürlich auch nicht automatisch erspart.
Ohne meinen „Superhelden“ Mark erschien mir der Job plötzlich gar nicht mehr attraktiv. Ohne ihn fühlte ich mich aufgeschmissen, und bei der Vorstellung, einen neuen Abteilungsleiter zu bekommen, wurde mir ganz schlecht. Mark war nicht so leicht zu ersetzen! Dazu gesellte sich natürlich auch die Panik, ihn überhaupt nicht mehr zu sehen, weder beruflich, noch privat. War das bereits das Ende?
Er musste mir angesehen haben, wie sehr mich dieses Thema mitnahm, da ich zeitnah eine E-Mail – mit dem Betreff „Wichtig“ – erhielt, die mich aufforderte, in sein Büro zu kommen. Als ich reinkam, stand Mark auf und ging auf mich zu. Mit seinem gütigsten Lächeln sah er mir in die Augen, strich wie beiläufig mit seinen Fingern über meine Wange und sagte ruhig: „Falls ich hier jemals weggehen sollte, nehme ich dich selbstverständlich mit!“
Ungläubig starrte ich ihn an. Hatte ich mich verhört? Jetzt war es so weit: Ab in die Klapse – eine ausgewachsene Halluzination musste behandelt werden! Der noch warme Veggieburger von McDonald’s in meinem Bauch fing massiv an zu rebellieren, und ich setzte mich auf den nächstgelegenen Stuhl.
„Wenn ich gehe, kommst du mit“ wiederholte er, da ihm aufgefallen sein musste, dass die Nachricht bei mir nicht ganz bis zum Stammhirn durchgedrungen zu sein schien.
Ich versuchte, Mark irgendwie mitzuteilen, dass ich verstanden hatte. Die Funktion zu sprechen versagte jedoch nach wie vor ihren Dienst. Mein Mund ging auf und wieder zu, heraus brachte ich nur eine Art Stöhnen. (Würde man ein Lebewesen dieser Erde auf einen fremden Planeten schicken, um die Intelligenz der Rasse zu repräsentieren, wäre ich sicher die erste Wahl!)
Mark erklärte, dass er zwar nicht wusste, wie lange seine Nerven noch ausreichend Potenzial dafür boten, sich kontinuierlich mit Frau Sackser auseinanderzusetzen, stellte aber klar, dass eine berufliche Veränderung momentan nicht anstand. Er arbeitete jetzt seit fast drei Jahren für die Firma und überlegte vielmehr, diese zu gegebener Zeit zu übernehmen.
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