Irgendwo in seinen klugen Büchern hatte er gelesen, dass es üblich war, den Bettlern Almosen zuzustecken, denn die Inder glaubten, eine gute Tat im jetzigen Leben würde Glück bringen, und sie würden dann, im nächsten Leben, in eine höhere, bessere Klasse oder Kaste hineingeboren werden. Also steckte er immer wieder der einen oder anderen schmutzigen Hand einen englischen Farthing zu.
Hinter ihm machte Sir John Sherbrooke sich ganz dünn, um nicht mit diesen sonderbaren, übelriechenden Geschöpfen in Berührung zu kommen. Man hatte ihm von den schlimmsten, ansteckenden Krankheiten erzählt, und seine Versetzung nach Indien beunruhigte den wohlhabenden Sohn eines unermeßlich reichen schottischen Adeligen mehr, als er offen vor seinem Kommandeur zugeben wollte. Seine Augen fixierten den roten Uniformrock von Wesley, als ob er Angst hätte, sich in dem Menschengewirr und an diesem unbekannten, schrecklichen Ort zu verirren.
Geschickt und wendig wich Arthur Trägern mit schweren Lasten auf dem Kopf aus. Ab und an verscheuchte er mit einer lockeren Handbewegung Fliegen, die hier allgegenwärtig schienen und ohne Unterschied Arm und Reich, Briten und Inder plagten.
Das Gebäude, das der Lastschiffer vom Hoogley ihm beschrieben hatte, konnte er schon deutlich ausmachen. Wohltuend hoben sich europäische Ordnung und Sauberkeit von einer unförmigen, weiß gekalkten und bunt bemalten Ansammlung krummer und schiefer Häuschen ab, vor denen Händler ihre Waren auslegten, Schneider um Kunden warben oder Frauen in farbenfrohen, eng um den Körper geschlungenen Tüchern eine warme Mahlzeit anboten.
»Dem Himmel sei Dank!« entfuhr es John Sherbrooke, als die beiden Offiziere endlich im Büro des Hafenmeisters ankamen.
»Schade, dass wir uns in den nächsten paar Tagen nur mit dem Ausschiffen und Einquartieren des Regiments beschäftigen werden. Ich muss mir unbedingt die ganze Stadt ansehen«, flüsterte Arthur dem Freund vor Aufregung atemlos zu. Die Tücher der Frauen nannte man Saris, und die Gerichte, die sie feilboten, waren curry, calipash, calipee und vor allem dosa, dünne Pfannkuchen, gefüllt mit Kartoffeln oder Eiern. Über die Schneider und Barbiere hatte er auch viele eigentümliche Dinge gelesen. Er war erst sechsundzwanzig, und die neue Welt um ihn herum faszinierte ihn. Doch er faßte sich schnell wieder, setzte seine dienstliche Miene auf und stellte sich dem britischen Hafenmeister von Kalkutta vor. Bis das 33. Regiment ausgeschifft und versorgt war, hieß es: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
In England und Irland war der Februar üblicherweise ein feuchter und kalter Wintermonat. In Bengalen, unterhalb der fruchtbaren Ebene des Ganges und zur Linken und Rechten von unzähligen Flüssen eingekesselt, war es ein glühend heißer Monat, in dem nicht ein Tropfen Regen, nicht ein Windhauch Erleichterung brachten. Tausende von Insekten schienen nur eines im Sinn zu haben: sich auf das frische Blut der Offiziere und Mannschaften des 33. Infanterieregiments zu stürzen und jeden der Neuankömmlinge bis auf den letzten Tropfen auszusaugen! Keiner von ihnen war an dieses Klima gewöhnt, und jeder, vom Trommlerjungen bis hinauf zu den Offizieren, litt am Tage unter der erdrückenden Hitze und in den schwülen Nächten unter den unbarmherzigen Blutsaugern.
Und obwohl es ihrem jungen Obersten schneller als erwartet gelungen war, sie alle ordentlich unterzubringen, schien das West Riding in diesen Tagen nur noch aus einer endlos langen Krankenliste zu bestehen. Nicht dass es den Soldaten wirklich schlechtging! Die meisten vertrugen nur die gnadenlosen Temperaturen noch nicht, oder sie tranken unverhältnismäßig große Mengen kalten Wassers und bekamen davon Durchfall und Fieber. Oder sie schütteten ihren Brandy pur in die ausgedörrten Kehlen und wurden dadurch binnen weniger Minuten zu taumelnden, schweißüberströmten Kreaturen, die hilflos in sich zusammensanken und Stunden brauchten, um wieder zu sich zu kommen.
Während Wesley gemeinsam mit den Majoren Shee und West und gefolgt von Sergeant-Major Dunn die Baracken unterhalb des eindrucksvollen Gebäudekomplexes Fort William durchquerte und dabei verärgert die Stirn runzelte, ging ihm durch den Kopf, wie unvernünftig es doch war, die Soldaten in einem subtropischen Land in Uniformjacken aus schwerer schottischer Wolle zu stecken. Die steifen Kragen mit ihren ledernen Einlagen würgten, und unter den roten Röcken zwang man sie noch in enge, hochgeschlossene warme Westen und schwere Hosen aus Manchestertuch. Er konnte die Männer zwar nicht von ihrer Uniform befreien, aber zumindest ein wenig Vernunft walten lassen.
»Dunn!« winkte er seinen Sergeant-Major zu sich. »Schreiben Sie! Die Soldaten haben sich täglich zu waschen ... von Kopf bis Fuß, und wenn sie noch so murren und maulen! Ihre Hemden und Socken können sie dabei gleich mit ins Wasser stecken! Bei dieser Hitze trocknet der ganze Kram in zehn Minuten. Und ein Mal pro Woche müssen die Strohmatten draußen ausgeklopft und gesäubert werden. Die Baracken werden geputzt und ausgeräuchert und ... besorgen Sie Kalk. Lassen Sie diese verdammten, schmierigen Lehmwände weiß tünchen!«
Dann fauchte der Oberst in einem wesentlich unfreundlicheren Ton die beiden Majore an, die ihn begleiteten: »Die Männer werden um vier Uhr morgens geweckt, Gentlemen! Pünktlich um fünf Uhr will ich sie jeden Tag auf dem Exerzierplatz antreten sehen. Und dann lassen Sie sie exerzieren! Waffendrill bis zehn oder elf, wenn es anfängt heiß zu werden, und wenn ich hinterher einen einzigen Mann dabei erwische, dass er seine Brandy-Ration unverdünnt trinkt, dann reiße ich Ihnen den Kopf ab.«
»Aber Sir, was ...?« versuchte Francis West sein Glück. Er hatte nicht verstanden, was Wesleys Befehl eigentlich bewirken sollte.
Der Kopf des Obersten fuhr herum, seine graublauen Augen funkelten die Untergebenen böse an. »Stellen Sie keine Fragen, Sir! Tun Sie, was man Ihnen befiehlt!« Die Stimme war schneidend wie ein Messer. Dann beschleunigte Arthur seinen Schritt, fast so, als ob er es in den stickigen Baracken nicht länger aushalten könne. »Dunn, zum Teufel! Wo bleiben Sie?« rief er und ließ West und Shee im Halbdunkel zurück.
Der Sergeant-Major folgte seinem Oberst im Laufschritt. Er hoffte, dass Wesley bei dieser Geschwindigkeit darauf verzichten würde, zusätzliche Befehle zu erteilen. Doch kaum waren der Offizier und der Unteroffizier außer Sichtweite der Baracken des 33. Regiments, bremste Arthur genauso plötzlich ab, wie er zuvor losgerannt war. »Unvernünftige Kinder«, murmelte er verzweifelt. »Und die Offiziere sind genauso schlimm wie die Mannschaften.«
»Wie bitte, Sir?« erkundigte sich John Dunn. Er wusste nicht, ob sein Oberst von ihm erwartete, irgendetwas aufzuschreiben, oder ob Wesley nur Selbstgespräche führte.
»Haben Sie sich mal angesehen, was unser feines Regiment so treibt, John? Keinem scheint aufgefallen zu sein, dass wir nicht mehr in Dublin und mitten im irischen Winter sitzen, sondern am anderen Ende der Welt, wo die Uhren verkehrt herum gehen. Shee lässt die Soldaten zwischen zwölf und zwei durch die Gegend rennen und wundert sich dann, wenn die Jungs umfallen wie die Fliegen, während er bequem unter dem einzigen Baum auf dem Exerzierplatz im Schatten steht. Und West ist ein braver Bursche, scheint aber noch nie davon gehört zu haben, dass Staub und Schweiß seine Kompanien in einen dreckstarrenden, übelriechenden Haufen verwandeln. Seit zwei Wochen sind wir jetzt in Kalkutta, und ich bin mir sicher, nicht einer der Männer hat in diesen vierzehn Tagen sein Hemd oder sich selbst gewaschen ... von Ihnen einmal abgesehen, mein Freund!«
John Dunn warf einen misstrauischen Blick über die Schulter. Als er sicher war, dass er und Wesley außer Hör- und Sichtweite der anderen waren, trat er neben seinen Obersten und schaute ihm fest in die Augen. »Das liegt alles nur daran, Sir, dass Sie und Oberstleutnant Sherbrooke so gut wie nie da sind! Wenn die Katze aus dem Haus ist ...«
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