Das Unwirkliche zu akzeptieren, welches man für real hielt, braucht ebenso ein Umdenken wie Realität zu akzeptieren, der man sich verschlossen hatte. In beiden Fällen tut sich der Verstand überaus schwer, seine eigene fiktive Realität abzulegen. Aus Angst, Gewohnheit und Starrsinn hält er gerne und lange an seiner bekannten Sichtweise fest.
Bis in das zwanzigste Jahrhundert gab es nur Annahmen darüber, wie Materie im inneren aufgebaut sein könnte. Zwar vertraten bereits die antiken Atomisten um die griechischen Philosophen Leukipp und Demokrit im 5. Jahrhundert vor Christus die Vermutung, dass alle Stoffe aus kleinsten Teilchen bestehen, die von bloßem Auge nicht sichtbar sind. Sie nannten diese Atome, vom griechischen ›átomos‹, was unteilbar bedeutet. Dennoch erschien es noch lange vielen Denkern unvorstellbar, dass Materie wie Metall, Stein, Holz oder der menschliche Körper fast vollständig aus leerem Raum besteht. Als man die Atome und deren tatsächlichen Aufbau im frühen 20. Jahrhundert schließlich entdeckte, war es eine Revolution, die ein Umdenken erforderte. Obwohl für den Verstand schwer fassbar, wurde das neue Wissen um das Prinzip von Atomhülle und Atomkern zum Allgemeingut und zu einem Beispiel, wie sich der skeptische Geist an neue Fakten gewöhnen kann.
Seither gelang im subatomaren Bereich die Entdeckung weit feinere Bestandteile, Quarks und Strings genannt. Auf dieser Ebene beobachten Wissenschaftler Phänomene, die mit keiner bekannten Logik nachvollziehbar sind. Oberflächlich und bis hin zum Atom gelten Gesetzte, die der Materie und dem Leben Struktur geben. Bei den Elementarteilchen aber, an der Grenze zur feinstofflichen Energie, versagen sämtliche Denkansätze. Der letzte Schritt, um der Existenz das Geheimnis des Daseins zu entlocken, wird mit gängigen intellektuellen Möglichkeiten nicht gelingen. Für die Erforschung der elementarsten Ebene zeigt sich, dass die dort herrschenden Bedingungen für unseren Verstand kaum fassbar sind. Diese Vorgänge bleiben ihm unbegreiflich, genauso wie er absolute Wahrheit, Liebe oder Erfüllung nicht ergründen kann.
Auf der Ebene, in der die Logik der Gedanken greift, sei aufgeschlossen für neue Entdeckungen und Ansichten. Dort wo sie sich nicht auskennt oder zurechtfinden, versuche intuitiv wahrzunehmen, was von Bedeutung ist.
Isaac Newton, englischer Physiker, Mathematiker und Astronom, 1643 bis 1727, drückte es einst überaus treffend aus: »Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ein Ozean.«
Alles Wissen bleibt stets lückenhaft und unvollständig, unabhängig davon, wie viel man davon in sich vereint. So sehr man sich bemüht, nie wird es umfassend oder abschließend sein. Obwohl in sich scheinbar stimmig und logisch, bleibt es doch Teilwahrheit. Dies zeigt sich auch daran, dass es laufend revidiert und erneuert werden muss.
Auf diesem unsteten Untergrund baut der Verstand seine unverrückbare Ansichten. Er konstruiert sich daraus sein Weltbild, gar eigene Realitäten. Dieses Prinzip kann man nicht einfach ändern oder unterbinden, aber man sollte es durchschauen! Wer basierend auf solch geistigen Konstrukten jeden Aspekt des Lebens zu verstehen und alles zu wissen glaubt, daneben nichts akzeptiert oder toleriert, wird unerfüllt bleiben und unausgeglichen.
Um wahre Bedeutung und Erfüllung zu erfahren, muss man lernen, den Tropfen aus Teilwissen und Teilwahrheit, aus geistigen Betrachtungen und Vorstellungen, in denen man sich verschließt, immer wieder zu verlassen. In ihm bleibt die Perspektive stets verzerrt, so wie sich im Wassertropfen das Licht bricht und den kleinen Ausschnitt, der sich darin spiegelt, verfälscht.
Fasse Mut und steige empor aus der Scheinrealität des begrenzten Denkens. Bleib nicht verschlossen in diesem einen Tropfen, wenn du eingehen kannst in den endlosen Ozean. Dort gibt es so viel mehr zu entdecken, als sich das Ego durch sein logisches Denken je eingestehen und vorstellen kann. Mit dieser Öffnung wird das Leben zum Durchbruch gelangen. Man wird eine neue Seite finden, in sich und im Dasein.
Der Verstand ist darauf spezialisiert, Zusammenhänge zu erkennen, Situationen zu analysieren, Informationen zu sammeln, Gleichungen zu lösen. Solchen Fähigkeiten verdanken wir die zivilisatorischen Errungenschaften. Sie tragen zur Verbesserung der Lebensweise bei, schaffen Innovationen in Medizin, Technik oder Architektur. Erfüllung und existenzielle Wahrheit indes fördert all das kaum ans Licht. Im Gegenteil ist das Denken unnötigerweise oft ein Hindernis, wenn es darum geht, die Fülle und Schönheit des Daseins auszukosten.
Ungeachtet vom Wissensstand oder der Intelligenz ist der individuelle Einfluss des Egos auf den Menschen stets erkennbar. Er lässt ihn gekränkt oder betrübt reagieren, unausgewogen oder beeinflusst. Er macht ihn abhängig oder gierig, befangen oder ruhelos. Viele große Denker leben dadurch vermehrt einseitig. Sie nehmen ihre geistigen Fähigkeiten für noch wichtiger, rücken die Gedankenwelt noch stärker in den Mittelpunkt. Natürliche Verhaltensweisen wie Hingabe oder Spontanität, Wagemut oder Menschlichkeit geraten in den Hintergrund. So wirken kluge Köpfe im wahren Leben oft verloren, bedrückt oder verschroben, während manch einfacher Geist Lebensfreude, Begeisterung, Lachen und Leichtigkeit an seiner Seite weis.
Trotz der Hindernisse und Hemmnisse sind der Verstand und das Ego unverzichtbar, für das irdische Dasein unerlässlich. Sie lassen uns Selbsterkenntnis gewinnen, die Voraussetzung für höheres Bewusstsein. Man soll den Geist nutzen und trainieren, wie einen Muskel, aber wie diesen auch ruhen lassen. Ansonsten versäumt man viele bedeutende Aspekte, versunken in voreingenommene Betrachtungen, abstrakte Vorstellungen, anhaltende Sorgen, Selbstzweifel oder Ängste.
Als 4. wesentlicher Grundsatz soll erkannt werden, dass die Limitierungen im Denken nicht zu überwinden oder zu umgehen sind. Dies zu akzeptieren ist maßgebender als jede Einbildung bezüglich des erlangten Teilwissens. Mit Wissen lässt sich prahlen, kann das Ego sich überlegen oder erhaben fühlen. In der eigenen Entwicklung hilft dies nicht weiter. Erst mit dem Bewusstsein, dass die geistige Kapazität nur ein Tropfen im weiten Meer darstellt, eröffnet sich die Chance, einzugehen in den endlosen Ozean.
Mut und Größe sind erforderlich, um sich einzugestehen, dass die Möglichkeiten des Verstandes immer begrenzt sind und durch sie wahre Bedeutung nie ergründen oder erschlossen werden kann. Das Ego widersetzt sich dem, verschließt sich ängstlich und bezeichnet solche Einsicht als unlogische Spinnerei oder ausgemachten Unfug. Die Gedanken braucht man denn auch nicht zu bemühen, um in grenzenlose Erkenntnis einzugehen. Sie sind dafür nicht das adäquate Mittel. Geistiges Loslassen, sich innerlich zu öffnen, trägt weitaus mehr dazu bei.
Durch die innere Öffnung offenbaren sich unverstandene Geheimnisse und Mysterien, formt sich eine erhellte Betrachtung über Zusammenhänge und Bedeutungen. So strahlt Licht ins Dunkel, Vertrauen ins Dasein, Liebe in den suchenden Geist. Unverhofft blickt man auf den endlosen Horizont, den man sich in all seiner Pracht nicht annähernd hat vorstellen können.
Als 5. wesentlicher Grundsatz gilt es alle Bemühung, aus dem Ego und dem Intellekt herauszutreten, nicht als Bedrohung zu verstehen. Vielmehr soll man sie als große Chance akzeptieren. Keinerlei negative Aspekte lassen sich damit verbinden. Die Öffnung erzeugt Weitsicht und Gelassenheit, Klarsicht und Gesundung. Wenn das Ego sich dagegen sträubt, tut es dies einzig aus eingebildeter Ängstlichkeit und grundloser Skepsis. Sind diese erst überwunden, erblickt man die Existenz mit anderen Augen.
Die Grundhaltung des Egos ist tendenziell ablehnend, wenn es um neu gewonnene Erkenntnis oder beherzte Offenheit geht. Die in sich gekehrte Haltung voller Misstrauen ist zu durchbrechen, wenn man sich von den Verhaltensweisen des Egos emanzipiert, mutig und vertrauensvoll aus biederen Konventionen und vorgetretenen Pfaden heraustritt. Dieser Schritt, zu dem man jederzeit in der Lage ist, schafft die Grundlage für inneres Wachstum, Wohlergehen, Liebe und Bedeutsamkeit.
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