Das Gedächtnis ist nicht darauf ausgelegt, Wahrheit oder Erfüllung speichern zu können. Wie jeder Hirnforscher weiß, strauchelt es schon daran, schlichte Erinnerungen objektiv und unverändert ein Leben lang zu konservieren. Bereits diese Aufgabe entspricht nicht seiner Anlage, denn es ist zu dynamisch, zu lebendig. Auf beinahe wundervolle Weise verändert es seine Strukturen immer wieder, passt sich neuen Gegebenheiten oder Verhaltensweisen an. All dies geschieht zum Wohle des Lebewesens, für welches es seine Arbeit tut.
Trotz größtmöglicher Bemühungen scheitert das Gedächtnis unweigerlich in fast allen Fällen darin, als neutraler Speicher zu funktionieren. Es ist ebenso wenig ein Computer, wie der Mensch eine Maschine ist. Als derart wichtiges Organ in diesem irdischen Dasein sollen wir seinen Nutzen, seine Stärken und die Limitierungen kennen.
Mit dem Ableben wird der Geist schließlich ausgelöscht, mitsamt dem Ego, den Erinnerungen, dem Wissen und den Eindrücken des Lebens. Nichts jedoch löscht die Energien des Daseins, die in alle Ewigkeit, über das Ende dieses Universums hinaus, mit unserem Selbst verbunden sind. Das ist keine mystische Theorie, sondern die Beschaffenheit des Daseins - von Energie auf ihrer elementarsten Ebene.
Als 3. wesentlicher Grundsatz muss realisiert werden, dass alles, was man im Bewusstsein erlangt, nie verloren oder vergessen geht. Jede bewusste Erfahrung bleibt durch die Energien mit dem Selbst verbunden, über alles Körperliche hinaus. Die Erinnerungen im Geist sind flüchtig und vorübergehend, bewusste Erfahrungen zeitlos und unvergänglich.
So ist es die größtmögliche Wertschätzung, wenn man die Liebe eines anderen bewusst erfährt. Dies ist weitaus wertvoller als sie mit Worten verdanken, mit Geschenken aufwiegen oder mit Gesten bestätigen zu wollen. Die höchste Würdigung ist sie anzunehmen und zu achten. Zu nichts anderem soll man sich verpflichtet fühlen als zu solch einer ehrlichen, offenen Geste. Wahre Liebe lebt durch Offenheit und Natürlichkeit, nicht durch Sprüche, einnehmende Geschenke oder Überlegungen.
Liebe zu leben erfordert eine innere Öffnung. Ansonsten wird nach der ersten Verliebtheit, wenn die chemischen Reaktionen im Körper nachlassen, die Anziehung und das Interesse schwinden. Ohne Offenheit klingt die Erregtheit und Nervosität der frühen Phase einer Beziehung ab und wird durch nichts kompensiert. Pulsiert Liebe nicht frei und ungehemmt, sondern wird eingeengt, ist die Verbindung bald von Desinteresse oder Langeweile gestört. Es folgen Missverständnisse, Misstrauen, Entfremdung und schließlich Trennung. Gelingt es aber, sich Liebe zu öffnen, entsteht neue Verbundenheit und Verliebtheit.
In gleicher Weise wie zur Liebe verstellt man sich den Weg zur Spiritualität. Sie steht, im Gegensatz zur verbreiteten Meinung, in keiner zwingenden Abhängigkeit zu Religiosität oder Gläubigkeit. Herrührend vom mittellateinischen Wort ›spiritualitas‹ steht sie der Bedeutung nach für das innere Wesen, die Seele, die Geistigkeit, beschreibt das wahre Selbst und die Natur des Menschen. Engstirnige Kirchentreue, routinierte rituelle Handlungen oder angepasste Glaubensauffassungen, wie sie für das Ego wesentliche sind, stehen einer wahren spirituellen Öffnung und Entwicklung im Weg.
Die spirituelle, also seelische Öffnung erfordert kein sich eingliedern in eine bestimmte Glaubensrichtung. Sie bedingt nicht, vorgeschriebene Rituale zu begehen oder Gebetstexte aufzusagen. Was es stattdessen benötigt, ist individuelle Entwicklung im Bewusstsein. Sich in einer religiösen Vorstellung zu verschließen, ebenso wie in einer starren Beziehung, entspricht den ängstlichen Charakterzügen des Egos, lässt den Menschen weder spirituell noch liebevoll und kaum erfüllt leben.
Einem Glauben zu verfallen, in Fiktionen zu versinken, aber auch in süßen Erinnerungen zu schwelgen, bildet keinen Ersatz für reale Erfahrungen. Jedes neue, noch so kleine Erlebnis, klar und bewusst wahrgenommen, ist wertvoller und interessanter als sich wiederholende Gedanken. Wer voll von Überlegungen, Sorgen oder Ängsten unachtsam durch sein Leben stolpert, wird das wahrhafte Erfahren des Augenblicks vermissen.
Das Gedächtnis ist überdies nicht in der Lage, wie jeder selbst nachvollziehen kann, korrekt zu konservieren, was man erlebt. Größten Wert soll daher darauf liegen, sich herzlicher Freude, natürlicher Schönheit, reinen Empfindungen und Erfahrungen an jedem Tag ganz zu öffnen. Abstumpfen, sich in Gewohnheit oder lustloser Bequemlichkeit verschließen bildet eine gegenteilige Verhaltensweise. Diese wird auf Dauer zur Quelle für Missmut, Unzufriedenheit, Neid, Hass, Gewalt und anderes Leid werden.
Genauso ist einzusehen, dass es nicht möglich ist, Wahrheit und Erfüllung, Liebe oder Spiritualität einzig im Geist zu entfalten oder nachzubilden, ganz gleich, wie intelligent oder belesen man ist. Nicht das größte Genie ist in der Lage, das zu erlangen, was dem Verstand an Möglichkeiten fehlt.
Unvergänglich ist die bewusste Erfahrung des Augenblicks, verblassend und flüchtig dagegen jede gedankliche Abbildung. Sei immer bereit, durch bewusstes, reales Erleben die Welt um dich herum interessiert und leidenschaftlich zu erkunden. Dadurch geschieht eine innere Öffnung, die dem Leben auf simple Weise eine neue Dimension verleiht.
1.2 Limitierungen und Chancen (IV-V)
Betrachtet man angesehene intellektuelle Persönlichkeiten und wie sie durchs Leben gehen, wird schnell klar, dass neben ihren anerkannten Leistungen in den jeweiligen Fachgebieten sie im Meistern des Alltags mit ebensolchen Schwierigkeiten, Sorgen und psychischen Schwächen kämpfen wie ihre Mitmenschen. Die geistige Kapazität verhilft ihnen wohl in Beruf oder Gesellschaft zu Status, Reputation und Reichtum. Im Wesen jedoch macht sie dies nicht erfüllter, menschlicher, ausgewogener oder glücklicher.
Ob sich jemand den Naturwissenschaften verschrieben hat oder der Philosophie, der Politik, Psychologie oder der Medizin ist einerlei. Große Denker stehen mit gleicher Hilflosigkeit ihren Emotionen und inneren Abgründen, Ängsten, Liebe, Einsamkeit, Mitgefühl und Verlorenheit gegenüber, wie all die Anderen. Daraus lässt sich unschwer schließen, dass Bildung, Intellekt, Intelligenz und Wissen, so wertvoll sie in fachlichen Belangen sind, nicht ausreichen, um wahrhafte Erkenntnis über das Dasein, über Sinn, Bedeutung und Erfüllung zu erlangen.
Eine solche Pforte konnte durch den Verstand bisher nicht geöffnet werden und wird sich auch nicht öffnen lassen. In der Vergangenheit ist dieser Durchbruch mit der Hilfe des logischen Denkens keinem gelungen, nicht einem Genius wie Sokrates, Leonardo da Vinci, Erich Fromm oder Albert Einstein. Wie stehen da die Chancen, dass es in Zukunft gelingen wird? Der Grund für die erfolglosen Versuche liegt nicht darin, dass all die großen Denker am falschen Ort gesucht hätten, sondern auf falsche Art und Weise. Im und durch den Verstand existiert eine solche Möglichkeit nicht, ist schlicht nicht gegeben.
Der Verstand besitzt wahrlich große Kreativität darin, sich seine eigenen Realitäten auszudenken. So sind viele der Ansicht, Zeitreisen in die Vergangenheit seien grundsätzlich möglich. Nicht nur Science-Fiction-Autoren spielen mit der Idee. Auch seriöse Wissenschaftler glauben aufgrund physikalischer Theorien, dass Zeitsprünge einst umsetzbar werden, durch eine Krümmung des Raums, Wurmlöcher im All oder andere Anomalien. Jedes Vorhaben außerhalb der existenziellen Gesetze aber wird nie eintreten, egal wie sehr der Verstand sich anstrengt und was für Ideen er ersinnt. Eine zurückliegende Zeit-Ebene ist nicht existent und somit auf keine Weise erreichbar.
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