„Klar, ein echter Hund schon, aber wild ist er nicht.“ Pablo tätschelte dem zotteligen Hund über den Kopf.
„Er hätte mich auffressen können“, beschwerte sich Luan. Er wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
Pablo grinste: „Du musst dir keine Sorgen machen, an dir ist ja nichts dran. Nein im Ernst, Nacho ist ein lieber Kerl. Der tut niemandem etwas.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Schön, dass du hier bist, Luan. Kalawesi hat uns schon einen Starprogrammierer angekündigt, ein echtes Talent. So jemanden können wir bei den Schattensurfern immer gebrauchen.“ Pablo klopfte Luan auf die Schulter. „Jetzt komm erst einmal mit. Dir ist sicher ganz übel von dem Betonmischer. Das Ding ist schlimm. Aber Kalawesi vertraut dieser Rostlaube.“ Pablo schlug mit der Faust auf die Motorhaube.
„Heute war es schrecklich“, sagte Albert. „Die Sipos hätten uns beinahe erwischt. In Zukunft werden wir die durchsichtige Seilbahn über die Mauer nehmen. Nächste Woche haben wir sie endlich einsatzbereit. Luan, ich wünsche dir viel Glück bei den Schattensurfern. Wir sehen uns bestimmt wieder. Macht es gut, Jungs!“
Albert drehte sich um und kletterte ins Führerhaus des Betonmischers. Rumpelnd setzte er den Motor in Bewegung. Dann fuhr er rückwärts aus dem Hof und die müden Scheinwerfer des Lastwagens verschwanden in der Nacht.
„Cooles ceeBand“, sagte Pablo.
Stolz strich Luan über den biegsamen Bildschirm um seinen Arm. In hellblauem Licht leuchteten blubbernde Blasen auf.
Pablo führte Luan auf die Rückseite des Hochhauses. Ein gläserner Aufzug schimmerte an der Außenwand wie ein Kristall. Er wollte so gar nicht zu dem heruntergekommenen Haus passen.
„Den haben wir selbst gebaut. Wir hatten das ewige Treppensteigen satt“, erklärte Pablo und schob Luan hinein. Luan bemühte sich, dem Hund nicht zu nahe zu kommen. Doch da stupste ihn dieses Tier schon wieder mit der Schnauze.
„Toller Aufzug“, stammelte Luan, aber seine Knie fühlten sich quarkweich an und sein Magen rebellierte. Luan hatte panische Höhenangst. So ein gläserner Aufzug war wirklich nichts für ihn.
Pablo tippte den Code. Ein grünes Licht blinkte und der Aufzug schwebte nach oben. Luan drängte sich an die Rückwand. Er hielt die Luft an. Nur nicht nach unten schauen. Im fünften Stockwerk bremste der Aufzug sanft ab. Die Wand hinter ihm schob sich auf und Luan stolperte rückwärts in eine strahlend weiße Eingangshalle. Wie das Innere eines halbierten Tischtennisballs sah sie aus. Die Wände liefen oben in einer Kuppel zusammen. Ein runder weißer Tresen stand in der Mitte und dahinter schwebte in einem bunten Hologramm der Schriftzug: Schattensurfer.
Ehrfürchtig starrte Luan das Hologramm an.
Nacho tappte auf seinen schmutzigen Pfoten über den glänzend weißen Boden.
„Ist schon ziemlich spät“, sagte Pablo und zog Luan am Tresen vorbei. „Die anderen schlafen längst. Morgen beim Frühstück lernst du sie kennen. Ich bring dich in dein Zimmer.“
„Und Marc Bodin?“, fragte Luan.
Pablo nickte: „Ja, ja manchmal ist Marc unser Gast. Aber er hat viel zu tun.“
Pablo führte Luan in ein Zimmer, mit eigenem Sofa und schwebendem Flauschbett aus wolkenweichem Schaum. Die Wand bestand aus einem riesengroßen Bildschirm, sicher fünf Meter breit, nicht so ein winziges Teil wie bei den Häppy Kidz. Auf dem Schreibtisch lagen sorgfältig sortiert Schachteln voller Hochleistungsprozessoren. Die waren lässig vier- oder fünftausend Euro wert.
Luan atmete tief durch. Das konnte alles nicht wahr sein. Und dann ließ er sich einfach auf das Bett fallen. Es schaukelte sanft. Sein Kopf sank in ein riesiges Kissen. Luan schloss die Augen und war im nächsten Moment eingeschlafen.
Sein Lieblingssong von den Galaxeiros weckte Luan am nächsten Morgen. Wohlig drehte er sich noch einmal im flauschigen Bettschaum. Schon lange hatte er nicht mehr so gut geschlafen. Dann kletterte er aus dem Bett. Mit den Fingern brachte er seine Frisur in Ordnung. Luan machte sich auf den Weg die anderen zu suchen und hoffte ein ordentliches Frühstück zu finden.
Montagmorgen, erste Stunde. Nicht der alte Geschichtslehrer in seiner abgeschabten Cordhose und dem karierten Hemd schlurfte herein, sondern ein junger Mann riss die Tür auf. Sein schwarzer Anzug saß perfekt. Auf dem ledernen Stirnband funkelte ein dunkelblauer Kristall. Seine hellblonden Haare waren so exakt geschnitten, als wären sie mit Zirkel und Lineal vermessen. Er trat hinter das Lehrerpult und wippte auf den Zehenspitzen. Seinen Rücken drückte er durch wie ein Reckturner. Er sagte kein Wort, trotzdem stand die ganze Klasse auf. Sansibar ertappte sich dabei, wie sie versuchte, genauso gerade zu stehen, ihre Hände nicht auf den Tisch aufzulegen.
„Sein Kristall“, hauchte Marella. „Er trägt einen dunkelblauen Kristall, fast schon schwarz, dabei ist er höchstens dreißig.“
Sansibar nickte ehrfürchtig. Einen blauen Kristall in dem Alter. Das hatte sie noch nie gesehen.
„Setzt euch, Kinder“, sagte der Mann und lächelte charmant. Leise glitten die Kinder auf ihre Stühle. Ihre Blicke klebten an seinem Kristall.
Er wippte noch einmal auf seinen Zehenspitzen. Dann fuhr er fort: „Ich heiße Tornham, Doktor Tornham. Ich arbeite im Kristallamt und darf euch auf eure Kristallfeier vorbereiten. Wie ich sehe, besitzen drei von euch bereits den Kristall. Ihr seid schon vollwertige Mitglieder der Gesellschaft und gehört zu RUHL. Richtig erwachsen seht ihr drei aus. Wenn ihr wollt, könnt ihr mir helfen, den Unterricht zu gestalten. Ansonsten lasst euren Gedanken freien Lauf. Unterstützt die Gesellschaft. RUHL wird es euch danken.“
Marella reckte ihren Kopf mit dem durchsichtigen Kristall auf dem Stirnband stolz in die Höhe.
Sansibar fühlte, wie sich Neid aus dem Innersten ihres Bauches nach außen fraß. Warum hatte sie noch keinen Kristall? Sie wollte endlich auch zu RUHL gehören.
Marella zwinkerte ihrer Freundin zu: „Ich glaube, mein Kristall hat schon eine ganz leichte Gelbfärbung. Was meinst du? Ein Hauch von Kamille?“
Sansibar warf einen giftigen Blick auf Marellas Kristall. Mit zusammengekniffenen Lippen zischte sie: „Tut mir leid, Marella, aber ich sehe kein bisschen Gelb.“
„Liegt vielleicht am Licht“, flüsterte Marella und streckte ihre Stirn mit dem Kristall wie ein Einhorn in die Luft.
„Ruhe, ich bitte um Ruhe“, sagte Doktor Tornham und klopfte mit den Fingerknöcheln auf das Lehrerpult. Unmerklich verengten sich seine Augen, als er einen Blick auf Sansibar warf.
Wie eine Schildkröte zog sie den Kopf ein. Innerlich kochte Sansibar. Marella benahm sich wirklich zu dämlich. Nur wegen ihrer Freundin hatte sie schon einen Anschiss bekommen.
„Liebe Kinder, Großes steht euch bevor“, fuhr Doktor Tornham fort, als wäre er selbst ganz aufgeregt. „Bald werdet ihr eure Kristallfeier begehen. RUHL nimmt euch in die Gesellschaft auf. Dann seid ihr keine Kinder mehr. Ich weiß, ihr brennt alle darauf, mit euren Gedanken der Gesellschaft zu helfen. Doch bevor es so weit ist, darf ich euch auf den großen Tag vorbereiten.
Heute wenden wir uns RUHLs Anfängen zu. Damals, vor fast 50 Jahren, zu Beginn dieses Jahrtausends, stellte niemand seine Gedanken der Gesellschaft zur Verfügung. Jeder lebte für sich, war auf sein eigenes Leben bedacht, schielte nur nach seinem Vorteil.
Wissenschaftler hatten herausgefunden, dass 95 Prozent aller menschlichen Gedanken verschwendet wurden. Einfach so im Nichts verpufften, für unsinnige Tagträume verwendet wurden, Gedanken, die keinem etwas nützten. Niemand wollte seine Ideen teilen. Niemand bemühte sich um die Gesellschaft.
Deshalb sprechen Wissenschaftler bis zum Jahr 2000 von der Dunklen Zeit. Erst danach traten allmählich Veränderungen im Verhalten der Menschen ein.
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