Der Raum war glücklicherweise groß genug für die ausladenden Gesten, mit denen Jure-Gunnar, wie Fred ihn nach wenigen Minuten für sich nannte, seine gewählten Worte einrahmte. Und die Tapete war dick und weich genug, Wort für Wort mühelos zwischen den goldenen Ornamenten auf samtigem Rot versickern zu lassen.
Aufmerksam musterte Fred die vielen Bilder, die die sehr hohen Wände füllten. Bis ihn Falkensteins gleichbleibende Freundlichkeit zurückholte - von wo auch immer.
„Ich möchte Ihrem berechtigten Interesse, unverzüglich die Formalitäten ordnungs- und wunschgemäß abgewickelt zu wissen, mit all meiner fachlichen Kompetenz entgegenkommen. Lange genug hat Sie Ihr werter Herr Vater, den ja leider viel zu früh der Tod aus unserer Mitte gerissen hat, auf die Folter gespannt.“ Fast hätte er gelacht, der Herr Doktor, über dieses müde Witzchen, seine kleine anzügliche, wohldosierte Entgleisung. Aber als Testamentsvollstrecker geziemte sich das sicher nicht.
„Herr Falkenstein. Natürlich möchte ich nicht nur etwas über die Erbschaft erfahren. Mein Vater wird sicher Gründe gehabt haben, mich hier drei Wochen warten zu lassen. Aber.... zwischen uns war...,“ Fred suchte eine unverfängliche Floskel, „...wir hatten ein etwas gespanntes Verhältnis. Wenn wir überhaupt eines hatten. Ich hoffe, mir erschließen sich mit Ihrer Unterstützung ein paar Zusammenhänge.“
Der Notar räusperte sich hinter seinem ausladenden Mahagonischreibtisch, in dessen polierter Platte ein goldgerändertes Lederpolster eingelassen war, dessen einziger Verwendungszweck zu sein schien, den feingliedrigen Händen, die in dürerscher Bildhaftigkeit auf dem Tisch lagen, sanftes Kissen zu sein. Zu seiner Rechten lag parallel zur Goldkante ein Brieföffner. Ein Brieföffner, der in einem anderen Leben ein mörderisches, kaum eine Einstichstelle hinterlassendes Stilett gewesen sein könnte. Auf der anderen Seite des Lederpolsters lag ein dicker, schlichter DIN A4 Umschlag in Normpostfarbe Braun. Um diesen Umschlag ging es.
„Darf ich Ihnen, bevor ich tätig werde, eine frisch gebrühte Tasse Kaffee anbieten, lieber Herr Keller? Die Dicke des Umschlags lässt auf eine nicht geringe Verweildauer in meinen bescheidenen Räumen schließen. Und viele Menschen pflegen ja des Nachmittags eine kleine Kaffeestunde einzulegen. Gönnen Sie mir die Freude und Ihnen die Entspannung.“
Fred gab sich geschlagen und nickte. So freundlich es in dieser Situation eben ging. Die betenden Hände trennten sich lautlos, eine griff nach der Messingglocke, die früher möglicherweise in einem Gerichtssaal für Ruhe und gebotene Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Innerhalb erstaunlich weniger Sekunden klingelte sie Fräulein Serlbacher herein, deren auffällig unauffällige Erscheinung auf den ersten Blick nicht nur Kaffeemaschinenkenntnisse versprach.
Fred hatte den festen Boden unter den Füßen verloren. Ganz leicht, fast widerstandslos glitt er dahin. Das Blatt schnitt sanft die Welle, mühelos trennte der Bug das Wasser, um auf der kurzen Reise zum Heck an den lackierten Bootswänden welke Erinnerungen aufzufrischen. Der alte Nachen und der See, sie gehörten zusammen. Fred setzte die Flasche an den Mund, ganz gewiss, nun überhaupt nicht mehr zu verstehen, was passiert war. Einzig und allein sicher war: er und dieses rätselhafte Haus gehörten nicht zusammen. Genauso wenig wie er und sein Vater. An dieser Ansicht war nach wie vor nicht zu rütteln. Der „vorzügliche Hennessy“, wie ihn Jure-Gunnar am Ende der Testamentseröffnung und den nachfolgenden Erläuterungen angeboten hatte, konnte gar nicht so großzügig bemessen sein, wie ihn Fred gebraucht hätte. Der protzig bauchige Schwenker war gebührend seriös gefüllt.
Den Rest gab sich Fred nun Stunden später draußen auf dem See, der ihm mit jedem Gedanken, jedem Schluck fremder wurde. Der See und der Schnaps sollten ihn schützen, davor bewahren, vor allem bewahren. Doch wovor? Denn obwohl Fred seit einiger Zeit dem Flaschenboden entgegen trank, war er immer noch zu nüchtern, um sich nicht mehr zu ärgern. Nicht weil er Fragen stellen musste. Er war es gewohnt, frühzeitig Probleme zu erkennen, für seine Art der Gastronomie Profile zu erstellen, die ihm und ausschließlich ihm Vorteile brachten.
„Da wo ich bin, ist vorn!“ Diese Floskel wurde durch einen Zeitgenossen wie Fred Wirklichkeit. Nein. Was Fred fuchste, war, erkannt zu haben, sich diese Fragen auch noch selbst beantworten zu müssen. Wenn er allerdings ehrlich mit sich war - und das war er meistens, ganz anders als er mit anderen umging - steckte er in einem unerträglichen Dilemma. Er spürte genau, daß es so war.
Aber nicht, warum.
Nur von einer Wolldecke geschützt, hatte Fred den Rest der Nacht auf der Bank in der Wirtsstube verbracht, den Kopf ungepolstert auf dem rohen Holz. Es war aber nicht die unbequeme Lage, die ihm zu schaffen machte.
„...hinterlasse ich Dir als Allerwichtigstes ein moralisches Erbe...“,
Fred versuchte, sich bequemer zu legen. In seinem Hirn kreisten Satzfetzen.
„...vielleicht ist es Dir vergönnt, liegt in Deiner Bestimmung, was mir trotz aller Anstrengungen verwehrt geblieben ist...“
Er konnte es sich nicht erklären. Drei Wochen waren vergangen, drei Wochen, die ihm sein toter Vater aufgezwungen hatte. Er fühlte sich ausgelaugt, überfordert. Nicht, weil es zuviel zu tun gab an diesem Ort, den er vor Jahren fluchtartig verlassen hatte, sondern weil er kein Gefühl dafür bekam, was er überhaupt tun konnte. Was er tun konnte, um dieses Warten zu beschleunigen. Er hätte sich auch gar nicht beschäftigen müssen, nur verstanden hätte er gerne, warum diese drei Wochen bis zur Testamentseröffnung sein mussten.
Dabei hatte alles so einfach ausgesehen, als er vor der verschlossenen Tür seines Elternhauses stand.
Vorübergehend geschlossen!
So heruntergekommen, wie das Schild aussah, hing es nicht erst an der Tür zur Besenwirtschaft, seit der Vater tot war.
Nun stand er da. Für drei Wochen an den Bodensee genötigt.
Schönes Fleckchen Erde, ruhig, zugegeben. Sicher nicht billig. Trotzdem wär ich lieber dabei, wenn meine Küche renoviert wird.
Diese Aufgabe hatte er notgedrungen seinem Freund Paul übertragen. Wenn man schon mal einen Architekten zum Freund hatte. Fred verstand nicht, warum er drei Wochen im Haus seines Vaters bleiben sollte, bevor der Notar das Testament öffnen würde. Er hatte keine Erfahrung mit Sterbefällen, aber mehr als eine Woche konnte das doch nicht dauern.
Den Vater unter die Erde zu bringen, war noch einfach. Fred musste nur anreisen, am Grab stehen und sich von zwei Dutzend Dorfbewohnern die Hand schütteln lassen. Er hatte nun nicht gerade erwartet, bei der Beerdigung seines Vaters das ganze Dorf ums Grab versammelt zu sehen, aber es reichte nur zur Ortsgruppe des Fischereivereins und einigen nahen Nachbarn. Zu den wichtigen Honoratioren hatte er offensichtlich nicht mehr gehört.
Die Behördengänge hatte der ihn kontaktierende Notar Falkenstein – Gunnar von Falkenstein, genaugenommen – übernommen und so sah es anfangs nach einem zähen, aber schmerzlosen Aufenthalt aus. So schmerzlos wie in der Familie seit langem mit persönlichen Angelegenheiten umgegangen wurde.
Im Moment erinnerte er sich an die letzten drei Wochen nur ungern, gerade weil durch die gehörige Portion Restalkohol die rational kaum zu greifenden Ereignisse noch absurder erschienen.
Die zwei Stunden gestern bei Doktor Falkenstein ließen allerdings die Wartezeit in einem anderen Licht erscheinen. Der Notar zelebrierte die Testamentseröffnung. Fred sank gleich immer tiefer in den gepolsterten Sessel, aber nach und nach wurde er doch aufrechter und angespannter. Im Leben hätte er das seinem Vater nicht zugetraut. Nun war er tot – und forderte einiges mehr.
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