Georg Steinweh - Die Gabe des Erben der Zeit

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Fred kehrt mit 36 zurück in das Haus seiner Eltern, das er seit seinem 18. Lebensjahr nicht mehr betreten hat. Die Eltern sind Fischer. Fred ist neun, als seine Mutter im See ertrinkt. Vater Konrad wird zum Eigenbrödler. Und stirbt. Fred erbt ein schönes Seegrundstück auf der Höri mit Haus und Besenwirtschaft. Dafür muss er drei Wochen im Haus aushalten, so die Bedingung des Vaters. Fred erlebt unerklärliche Dinge. Ruhe findet er nur auf dem See und will lieber heute als morgen verkaufen.
Er trifft einen alten Schulfreund, der Ausgrabungen kartografiert. Beginnt ein Verhältnis mit Renie, die scheinbar zufällig am Haus vorbeikommt. Sie arbeitet in einem großen Immobilienbüro, kauft diverse Seegrundstücke auf, um für einen anonymen Investor ein riesiges Freizeit-Resort zu bauen. Erzählt Fred von all dem nichts.
Fred begegnet Mara, einer seiner vielen Jugendfreundinnen, die in ein das Unglück anziehende Familie eingeheiratet hat. Ihr Schwager Gabriel ertrinkt bei einem verbotenen Tauchgang, ihr Mann Johannes, Gabriels Zwillingsbruder, verschwindet einige Zeit später aus der Familie.
Fred kommt seiner ständigen Müdigkeit auf den Grund: er schlafwandelt. Nach vielen Fehlversuchen entdeckt er im Keller ein geheimes Labor. Sein Vater wollte ein Zeitserum erfinden. Wollte zurück in die Zeit, bevor seine Frau starb. Fred interessieren diese Beweggründe nicht. Es gelingt ihm – mit Hilfe der akribischen Aufzeichnungen seines Vaters – zeitreisefähige Botenstoffe aus Materialien der entsprechenden Zeit freizusetzen.
Bei seinem Malerfreund Leon stielt Fred eine mittelalterliche Keramikscherbe und gewinnt einen Botenstoff daraus.
Ein Tauchgang, der durch den Botenstoff zu einer Zeitreise wird, treibt ihn zum Konstanzer Konzil um 1415. Er findet Obdach und Arbeit bei einem einfachen Gastwirt. Dort kann er unauffällig seine Kochkenntnisse auf den Stand der Zeit bringen. Seine Fähigkeiten als Koch sichern ihm das Überleben in der überfüllten Stadt.

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Fred war sich sehr sicher, daß keine Freude in ihm aufkommen würde, wenn er nach all den Jahren Höriboden unter seinen Füßen spüren würde. Er hatte einfach keine guten Erinnerungen zurückgelassen, auch keine guten mitgenommen. Kontaktlos, gedankenlos, lieblos, so könnte man die familiäre Bindung in den Jahren zwischen Rhein und Bodensee benennen. Das Wasser, war nicht das Wasser das einzige Bindeglied zwischen Vater und Sohn? Die Richtung des Flusslaufs der einzige Hinweis, wer sich anzunähern hatte? Fred hatte bisher keinen Gedanken daran verschwendet, aber wenn überhaupt, hatte sein Vater Kontakt aufzunehmen.

Und wenn es um den Preis des Lebens wäre...

Freitagfrüh

Freds Freitag begann mit einer Galileischen Erkenntnis. Er konnte sich wegen heftiger Nackenschmerzen kaum bewegen, beobachtete also hilflos das Treiben um sich herum. Die Erde, zumindest ein winziger Teil in Gestalt seines momentanen Schlafraumes, drehte sich. Bewegte auf elliptischen Bahnen Regale und Deckenlampe, die willkürlich die Richtung wechselten, um ein imaginäres Zentrum, das offensichtlich er bildete. Sein Schwindel wurde dadurch nur stärker, die Frage nach dem ‚warum’ nur größer, obwohl sie sofort beantwortet wäre, wenn er nur leicht nach rechts zur Vitrine mit dem Plattenspieler geschaut hätte.

Eine Schnapsflasche fiel ihm auf - sicher selbst gebrannter - als er trotz großer Müdigkeit, neugierig, wie mit Fingerspitzen tastend, seinen Blick an der Bücherwand entlang streifen ließ. In einer Reihe häuften sich Buchrücken mit Titeln, die Fred an diesem Ort ungewöhnlich fand. Fachbücher über Neurologie, Psychometrie, Konservierung von Düften, Botenstoffe im Gehirn wechselten sich ab mit Jules Verne, Einstein und Hegel.

Er wünschte sich nicht noch so eine Nacht, oder war es schon die dritte? Eine Nacht entspannt schlafen, ohne von Träumen geplagt zu werden, an die er sich am nächsten Morgen sowieso nur schemenhaft oder gar nicht erinnern konnte. Einmal morgens aufwachen und im Laufe des gemütlich vorbeiziehenden Tages am Abend verdiente Müdigkeit spüren. Er sehnte sich nach seinen Dachfenstern in Bacharach, die ihm in sternenklarer Nacht Ausblick gönnten, ohne Einblick zu gewähren. Wie er glaubte.

Auf seinem Bauch drückte der schwere Bildband mit populärwissenschaftlichen Erläuterungen der Relativitätstheorie im Allgemeinen wie im Speziellen. Auf hochwertigem Glanzpapier gedruckt, ruhte das Buch auf Fred wie die exklusive Zeitung eines Obdachlosen unter der Rheinbrücke. Als versuchte es notgedrungen, ihn vor der kühlen Nacht zu schützen. Vorsichtig, ganz vorsichtig bewegte er ein Bein dem fugenreichen Dielenboden entgegen. Von der niedrigen Holzdecke berichteten tanzende Lichtflecke, der Tag müsse an anderer Stelle schon reichlich Fortschritte gemacht haben.

Sind zwar keine Sterne wie am rheinischen Nachthimmel, aber so gesehen genieße ich grade einen unglaublichen Service der Natur.

Der See reflektierte flirrende Muster an die zeitgebeugte Decke. Fred starrte auf die tanzenden Lichtspiele, als versuchte er die ständig wechselnden, sich nicht nur in seinem Leben nicht wiederholenden Zeichen zu lesen. Schwer zu sagen, wie lange er so krumm dalag und die Botschaft zu dechiffrieren versuchte. Jedenfalls konnte er sich mit einem Mal schmerzfrei bewegen, das Buch fiel zu Boden, aber er stand aufrecht, ohne zu schwanken mitten im Zimmer und starrte auf das Fensterkreuz.

Oder irgend woanders hin da draußen.

Es dämmerte, nicht der Tag - dem Sonnenstand nach hätte ein Hörianer leicht damit glänzen können, von der Mittagszeit zu reden. Es war Fred, in dem die Klarheit hochzog, wie an einem Wasserstandsanzeiger bei Pegel Konstanz.

Freitag. Heute. Endlich!

Die Blase drückte fürchterlich. Nachdem er sich zumindest diese Erleichterung verschafft hatte, was er wie immer im Stehen tat, machte er sich, schneller denkend als sich bewegend, auf den Weg zur Kaffeemaschine.

Praktischerweise war er ja schon oder noch angezogen, die abendliche Einschlafhilfe muss überraschend gewirkt haben. Nach der ersten Tasse Kaffee – ja, immer noch Kaffee, obwohl sein Arzt es verboten hatte – machte er sich landfein, zumindest nach außen wollte er respektvoll den notariellen Termin wahrnehmen. Nicht, daß er auf die Erbschaft scharf gewesen wäre.

Komisch. Was denn hier los?

Fred betrachtete unter dem sprudelnden Wasser seine Hände. Das Wasser perlte ab, hüllte sie aber wie ein transparenter Handschuh ein. Erschrocken zog er die Hände zurück, als fürchtete er, sich zu verbrühen. Die Feuchtigkeit wich, tropfte ins Becken und verschwand. Das Rätsel blieb. Ungläubig starrte er seine Hände an.

Ich hab doch gestern überhaupt nix mit Schmiere oder Öl gearbeitet, wie...?

Im Gegenteil. Fred hatte wie ein Besessener mit Viss, Akupads und Schmierseife die Tische geschrubbt. Die Wurzelbürste flog nur so über die an die Wände montierte Eckbank. Was hätte er schließlich in den drei Wochen tun sollen? Gammeln war nicht sein Ding. Das Haus hatte eine ordentliche Substanz, sein spätestens seit Bacharach geschulter Blick verriet ihm das in jeder Ecke. Das Lokal dämmerte unter einer verfetteten Staubschicht, der Charme musste nur wieder ans Tageslicht erputzt werden. Nur? Nun gut, am Anfang hatte er keine Ahnung, wie viel Dreck, wie viel Erinnerung sich in den Winkeln verkriechen konnte. Aber das hier. Wie kam um alles in der Welt dunkle Schmiere unter seine Fingernägel?

Die Wirtsstube behielt die Antwort für sich.

‚Im großen Stil’

könnte im Milchglasfeld der Bürotür von Renie Tiez unter dem eingeätzten Namen als Charakterstudie stehen. Schlicht und transparent glänzte der Name je nach einfallendem Sonnenlicht dem Besucher entgegen, schwebte in der edlen Tür, deren Mahagonizarge, zusammen mit dem polierten Messingrohrgriff ebenso den Weg in die Offiziersmesse eines nicht allzu kleinen, nicht allzu billigen Kreuzers freigeben könnte. Ansonsten tauchte das Wörtchen schlicht nur noch auf, wenn Renie Tiez Oskar Wilde heranzog und sich selbst charakterisieren sollte: schlicht von allem das Beste.

Ihr 68er Mustang röchelte gelassen durch Sankt Gallen. Seine exotische Erscheinung provozierte die angestaubten Häuserzeilen. Die Schweizer hatten seit jeher ein Faible für amerikanische Schlitten, als könnten sie damit die ihnen womöglich peinliche Unfähigkeit kaschieren, ein ordentliches, auf dem mobilen Weltmarkt akzeptiertes Automobil zu kreieren. Renie Tiez war nichts peinlich, hatte nichts zu kaschieren. Sie war weit jünger als ihr Statussymbol und dachte darüber nach, wie sich die Uferbereiche - und natürlich nicht nur die anteiligen Schweizer Gestade - im großen Stil umgestalten ließen. Sie meinte es tatsächlich so, eine Neugestaltung, eine Funktionserweiterung schwebte ihr vor. Öffentliches Bodenseeufer durfte nicht krämerischen Einzelinteressen kleinmütiger Gemeindeverwalter oder statussymbolanhäufendem Geldadel überlassen bleiben. Global und verantwortungsvoll musste an die Zukunft gedacht werden. Zumindest an die ihrer Investoren.

Unterdessen schlürfte ihr Mustang fleißig Superbenzin, in seinem typischen Rot kam er daher, als wäre die Zeit spurlos an ihm vorübergegangen und jeder, der sich ans Steuer setzen durfte, fühlte sich sofort in die Ära zurückversetzt, in der sowieso alles besser war. Vor allem der Sprit billiger. Der Mustang schlürfte also reichlich, weil er den allzu laut umjubelten technologischen Fortschritt verschlafen hatte. Was ihn ja fast schon wieder sympathisch machte.

Wer Renies Charakter an ihrer Fahrzeugwahl festmachen wollte, konnte nur irren. Egal welche Schublade er aufmachte, es war die falsche. Sie war nicht naiv, nicht oberflächlich, nicht aufdringlich. Schwierig war nur: im nächsten Moment konnte alles wieder anders sein. Ein gutes Beispiel war die Arbeit mit oder besser an Doktor Ernst Tafler, seines Zeichens für die westlichen Bodenseeufer zeichnungsberechtigter Gemeindeamtmann. Der dachte immer noch, mit Lüti-Boden den für Schweizer Behörden wasserdichten Kontrakt ausgehandelt zu haben.

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