Irgendwann während des Gesprächs erwähnte Philipp, dass er früher einmal Mitglied bei einem Schachklub gewesen sei, worauf ihm Piet sofort erzählte, dass er ebenfalls in seiner Jugend vereinsmäßig Schach gespielt habe, jetzt aber – auch mangels eines geeigneten Partners – so gut wie nie mehr zum Spielen kam. Er fragte Philipp, ob er nicht einmal auf eine Partie Schach und ein Glas Wein zu ihm kommen wolle. Seit der Trennung von Babsi starrte Philipp am Abend regelmäßig der Einsamkeit ins Gesicht, so dass er nicht lange zu überlegen brauchte, bevor er zusagte. Neben der Aussicht auf einen netten Schachabend hatte er auch ein gewisses Interesse, gerade Piet näher kennen zu lernen. Er wusste, dass er in Afrika wahrscheinlich mehr mit ihm zu tun haben würde als mit den anderen, da Piet auf Grund seines bisherigen Berufslebens eine ähnliche Tätigkeit ausüben würde wie er selbst. Außerdem schätzte er den Holländer als interessante Persönlichkeit, an der er noch nicht alle Seiten entdeckt zu haben glaubte. Sie versprachen, einander anzurufen, sobald es sich ausginge, und tauschten die Telefonnummern aus.
Mit Sarah sprach er an diesem Abend außer ein paar Belanglosigkeiten kaum etwas. Wie auch? Philipp sah zwischen ihnen so Vieles, das erst weggeräumt werden musste, bevor unbelastete Gespräche wieder möglich waren, und er zweifelte daran, dass diese Herkulesarbeit überhaupt zu bewältigen war.
Etwa um zehn Uhr nachts wurde zum allgemeinen Aufbruch geblasen.
Sarah schlug heute eine andere Richtung ein als Philipp, so dass sie diesmal nicht gemeinsam zur Haltestelle gingen. Seltsamerweise mischte sich bei Philipp in die äußere Genugtuung darüber ein leises Gefühl der Enttäuschung, das er aber nicht wahrhaben wollte. Nachdem er sich von allen verabschiedet hatte, ging er langsam durch die Kälte zur Straßenbahn, die ihn nach Hause bringen würde, wo niemand ihn erwartete.
Nach einem recht ereignislosen Wochenende kam Philipp am folgenden Montag etwas früher als sonst ins Büro. Er hatte im Laufe der letzten Woche im Büro des Generaldirektors wegen eines Termins angefragt, da er auf Grund seiner Absicht, die Bank zu verlassen, reinen Tisch machen wollte. Auch Erich, seinen unmittelbaren Chef, hatte er von seiner bevorstehenden Besprechung auf höchster Ebene informiert und irgendwann Ende letzter Woche war ihm schließlich die Mitteilung zugegangen, dass Dr. Schröder heute um zehn etwas Zeit für ihn erübrigen könne.
Schon auf dem Weg in die Bank hatte ihn nichts anderes beschäftigt als die Besprechung. Er hatte keine Ahnung, wie sie ablaufen würde. Wahrscheinlich war auch Erich eingeladen. Dr. Schröder würde ihn zweifellos dabei haben wollen. Philipp hatte jedenfalls den Plan, seine völlig perspektivlose Situation in der Bank zur Sprache zu bringen und, davon ausgehend, ein Ausstiegsszenario zu für ihn günstigen Konditionen, sprich, mit einer angemessenen Abfertigung, anzustreben. Schon seit er aufgestanden war, hatte er sich deshalb alle möglichen Wendungen des Gesprächs ausgemalt, um für jede auch noch so unwahrscheinliche Situation eine optimale Antwort parat zu haben. Das meiste, was er sich ausdachte, vergaß er allerdings kurze Zeit später wieder. Im Grunde war es nur seine Methode, mit der Nervosität vor der für ihn ungewissen Situation umzugehen.
Fünf Minuten vor zehn fuhr er mit dem Lift in den fünften Stock und meldete sich bei der Sekretärin des Generaldirektors, von der er gebeten wurde, noch einige Minuten zu warten. Wie er vermutet hatte, kam ein paar Minuten später Erich. Als er Philipp wahrnahm, sah er ihn etwas vorwurfsvoll an und sagte etwas wie: „Was führst du denn jetzt im Schilde?“. Zum Unterschied von Philipp wurde Erich sofort ins Zimmer von Dr. Schröder gebeten, als er kam. Zwei Minuten später war es dann schließlich soweit und die Sekretärin ersuchte Philipp, ins Chefzimmer einzutreten.
Als die Türe geöffnet wurde, war er wie immer beeindruckt von dem vielen Leder auf der Türe, auf den Stühlen und auf dem Schreibtisch. Die Kästen und Aktenschränke waren aus gediegenem Mahagoni und an den Wänden hingen abstrakte, aber sehr harmonisch zur Büroatmosphäre passende Bilder, bei denen es sich erkennbar um keine Drucke, sondern um Originale handelte.
Dr. Schröder und Erich saßen am Besprechungstisch. Als sie Philipp wahrnahmen, wies Dr. Schröder auf einen Sessel an der gegenüberliegenden Seite des Tisches und Philipp setzte sich. Irgendwie erinnerte ihn die Situation an eine Anklagebank.
„Sie haben um diese Unterredung gebeten, Herr Engelbrecht“, begann Dr. Schröder, „ich möchte aber vorausschicken, dass diese Vorgangsweise einer direkten Besprechung mit dem leitenden Angestellten ohne vorhergehende Befassung des unmittelbaren Vorgesetzten keineswegs den Normalfall darstellt. Da es allerdings gerade in Ihrer Abteilung vor Kurzem zu einigen Veränderungen gekommen ist und Ihr Ersuchen, wie ich annehme, damit im Zusammenhang steht, habe ich zugestimmt. Worum geht es also bitte?“
Dr. Schröder war ein Typ, der keinerlei Wert auf Freundlichkeiten oder sonstige Äußerlichkeiten legte. Wie Philipp aus sämtlichen bisherigen Begegnungen mit ihm erkannt hatte, waren seine Bestrebungen ausschließlich darauf gerichtet, Probleme bei der Verwirklichung seiner Vorhaben aus dem Weg zu schaffen. Diesem Ziel ordnete er alles unter. Dem entsprechend liefen auch seine Abteilungsleiter-Besprechungen ab, wie er von Erich wusste. Sie bestanden aus der Erörterung der offenen Probleme mit anschließender Festlegung der Lösungsmaßnahmen, deren Realisierung dann exakt überprüft wurde. Offensichtlich sah er auch in der Vorsprache von Philipp ein mögliches oder bereits reales Problem, das gelöst werden musste.
„In der Kreditabteilung hat es, wie Sie bereits angedeutet haben, große Veränderungen gegeben. Ich kann und will nicht die Sinnhaftigkeit oder Notwendigkeit der getroffenen Maßnahmen beurteilen, aber es ist eine Tatsache, dass mehrere qualifizierte und erfahrene Mitarbeiter der Kreditabteilung, unter anderem ich, derzeit ohne genaue Aufgabenzuteilung und großteils unqualifiziert beschäftigt werden. Dies ohne irgendeine Erklärung der Geschäftsleitung, so dass keine wie immer geartete Perspektive aus Mitarbeitersicht erkennbar ist. Deshalb möchte ich von Ihnen direkt hören, was Sie mit mir und den anderen Mitarbeitern der Kreditabteilung beabsichtigen, welche Zukunftsaussichten Sie uns geben können.“ Philipp sagte das alles mit festem Ton und war selbst überrascht, dass, spätestens seit er in seinem Sessel saß, jede Nervosität und Zurückhaltung von ihm abgefallen war. Auch die sachliche Art Dr. Schröders, der, wenn er etwas zu sagen hatte, dies ohne alle Umschweife tat, war dazu angetan, bei der Antwort einen adäquaten Ton anzuschlagen. Die Tatsache, dass Philipp sich von seiner Firma bereits innerlich gelöst hatte, trug das ihre dazu bei.
„Herr Engelbrecht, ich kann Ihnen nur sagen, was Sie schon wissen: Wir haben die Kreditabteilung auf ein vernünftiges Maß redimensioniert, wodurch das Problem zu lösen ist, was mit den frei werdenden Mitarbeitern geschehen soll, insbesondere da es durch ähnliche Aktionen in anderen Abteilungen auch sonst im Haus keine entsprechenden Posten gibt. Aus diesem Grund wurde ein Mitarbeiterpool für besondere Aufgaben geschaffen, der aus diesen Kolleginnen und Kollegen besteht. Das aus Ihrer Sicht Positive dabei ist, dass Sie mit großer Wahrscheinlichkeit keine finanziellen Einbußen haben, obwohl ihre derzeitige Verwendung in ihrer Wertigkeit nicht Ihren Bezügen entspricht. Durch die mit Ihnen und den meisten anderen betroffenen Mitarbeitern abgeschlossenen Arbeitsverträge, die die Möglichkeiten des Dienstgebers, was Beendigung oder Bezugsreduktion betrifft, sehr stark einschränkt, sind Sie vor einer Kündigung ohnehin recht gut geschützt. Heute gibt es solche Verträge längst nicht mehr. Zu Ihren Zukunftsaussichten und Perspektiven kann ich Ihnen und auch Ihren Kollegen keinerlei Zusagen machen. In einem Betrieb, in dem rationalisiert wird, gibt es mittelfristig keine vernünftigen Perspektiven für die betroffenen Mitarbeiter. Etwas anderes zu sagen wäre Augenauswischerei, und dafür bin ich nicht zu haben. Sie haben im Grunde Glück, dass Ihre Arbeitsverträge in einer Zeit entstanden sind, in der noch nicht an solche Maßnahmen gedacht wurde, weshalb die Absicherung der Dienstnehmer in den Verträgen auch weit über jede sachgerechte Regelung hinaus geht und Rationalisierungen äußerst mühsam macht. Die derzeitige Situation muss aber nicht zwingend bedeuten, dass es für die betroffenen Mitarbeiter keinerlei Möglichkeiten mehr gibt. Die Finanzkrise macht die Aussichten zwar nicht rosiger, aber man weiß nie, was die Zukunft bringt.“ sagte Dr. Schröder.
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