Und jede dieser Visualisationen ging in Erfüllung, wie Pill in einer Vorher-Nachher-Gegenüberstellung demonstrierte. Vorher, vor dem Positiven Denken, vor dem Lesen des Buches von Pill, war N. V. in allem am Ende. Aber nachher, nach dem positiven Denken und Lesen, da galt: Ende gut, alles gut. Dabei war von großer Bedeutung, dass N. V. sich die gewünschten Veränderungen mit äußerster Genauigkeit und Detailfreude vorstellte. Es hätte
keineswegs genügt, wenn er nur an irgendeinen Cadillac gedacht hätte. Sondern er berücksichtigte jede Einzelheit, z. B. die Länge der Antenne, die Farbe der Sicherheitsgurte, die Auswahl der Stationstasten am Radio usw. usw. Und nach Ratschlag von Pill beschränkte er sich auch nicht auf optische Imaginationen. Er phantasierte, wie sich das Zuschnappen der Türen anhörte, wie sich der Lack mit den Fingerspitzen anfühlte, ja sogar, wie edel die wertvollen Lederpolster rochen. Denn Mind Power arbeitete nur, wenn es genaue Informationen erhielt; nur dann konnte es die inneren Bilder in äußere Wirklichkeit umsetzen.
Stefan rauchte der Kopf von so viel Positivem Denken. Trotzdem wollte er wenigstens noch einen Blick in "Die unendliche Megastärke des Megabewusstseins" werfen, so gespannt machte ihn der Titel. Aber das Buch gab sich reichlich kompliziert, fast wie ein Computer-Lehrbuch. Er kapierte zunächst nur soviel, dass man negative Gedankenprogramme löschen musste und neue, positive einspeichern.
Dieser staubtrockene Stoff ließ seine Müdigkeit zu einem unüberwindbaren Monster anwachsen, die Augenlider hingen ihm schwer wie Kohlensäcke runter. Er beschloss, für heute genug getan zu haben und ging zu Bett.
In der Nacht träumte er, in einem riesigen offenen Cadillac zu fahren. Die Straßen standen voll von Menschen, die ihm zujubelten und ihn als "Mr. Happy" feierten. Auf dem Nebensitz saß Pill und forderte ihn unablässig auf, allen Leuten zuzurufen, dass er den Erfolg allein dem Lesen von seinen, Pills Büchern verdanke. Schweißgebadet wachte Stefan am nächsten Morgen auf und fühlte sich halb enttäuscht, halb erleichtert, dass dieser Wunsch-Alptraum vorbei war.
Sein Mund hatte inzwischen wieder völlig zur Normalform zurückgefunden, und so fuhr er ins Büro, ohne Spott oder - noch schlimmer - Mitleid befürchten zu müssen. Lästermaul Alf ließ es sich natürlich nicht nehmen, ihn dennoch mit "Hallo Schiefmaul" zu begrüßen. Blitzschnell kam Stefan der Gedanke: "Sei selbstbewusst, sei mutig!" und er antwortete "Hallo Ekel". Alf fiel die Kinnlade runter, denn so direkt hatte ihn noch keiner mit seinem Spitznamen angeredet. Anscheinend war er im Austeilen viel besser als im Einstecken; jedenfalls verstummte er erst einmal, was Stefan als Sieg für sich buchte. So hatte er den Eindruck, mit der Methode des Positiven Denkens erstmals einen Erfolg errungen zu haben. Natürlich war das nur ein Minierfolg, keine "klassische", keine bedeutende Anwendung des Positiven Denkens, aber immerhin. Befriedigt ging er zu Dr. Locke herüber. Der starrte auf Stefans Mund und schaute dann seinerseits sehr zufrieden.
"Aha, wieder alles geschlossen."
Ja, ich hatte eine ... " - Stefan wollte nichts einfallen - "eine Zahngrippe."
Zahngrippe?" fragte Locke und ließ jetzt selbst den Mund offen stehen.
Stefan wandt sich: "Ich hatte mir den Mund erkältet und ... "
Der Gruppenleiter guckte ungläubig, aber er war offensichtlich entschlossen, sich seine Zufriedenheit nicht durch einen Zweifel wieder rauben zu lassen. "Was es nicht alles gibt", sagte er mit verbindlichem Nicken.
Stefan begab sich an seine Arbeit, aber er war nicht richtig bei der Sache. Immer wieder dachte er an sein Positiv-Programm und was er damit alles erreichen wollte. So wartete er schließlich sehnsüchtig darauf, dass Feierabend war. Früher ging er oft ungerne nach Hause, jedenfalls wenn er für den Abend kein Ausgehen oder Treffen geplant hatte. Aber jetzt fieberte er fast darauf, sich wieder in seine Positiv-Welt zu versenken.
Kaum zu Hause, krabbelte er auf seinen Fernsehsessel, lehnte sich zurück, nein, schaltete nicht den Kasten an, sondern den Kopf: Was habe ich aus den bisherigen drei Büchern gelernt?
Gut, jeder Autor beleuchtet das Thema von einem anderen Blickwinkel aus, doch im Grunde sagen sie alle das gleiche: Der Mensch ist Meister seines Lebens. Wenn er negativ denkt, erleidet er Misserfolg; aber er kann positiv denken und wird so erfolgreich. Wie hieß noch dieses Sprichwort? Richtig: "Jeder ist seines Glückes Schmied."
Diesen Spruch kannte Stefan allerdings zur Genüge. Er hörte ihn als Kind fast täglich von seinem Vater, der ein Oberlehrer war, nicht nur von Beruf, sondern leider auch als Vater. Stefans Mutter, ebenfalls Lehrerin, war gleichermaßen positiv, scheinbar. Denn als Stefan älter wurde, hatte er gemerkt, dass die gute Laune der Eltern oft nur aufgesetzt war, eine Fassade, hinter der sich manches Dunkle wie Ehekonflikte und Depressionen verbarg.
Als Stefan auf des Vaters Lieblingsspruch einmal mit dem Gegensprichwort "Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln" reagierte, war der Vater fast ausgerastet und hatte sich diesen "Negativismus" lautstark verbeten.
Heute war das Verhältnis zu den Eltern ziemlich unterkühlt, man sah sich nur selten, zu besonderen Anlässen. Die Eltern hatten erwartet, dass Stefan - ihr einziges Kind - außerordentlich erfolgreich sein würde und waren mit seinem tatsächlichen Leben und erst recht seinem Beruf sehr unzufrieden. Er wiederum war es leid, sich von den Eltern ständig Vorhaltungen und Ratschläge anzuhören.
Stefan überlegte weiter: Gut, meine Eltern haben damit Recht gehabt, dass eine positive Lebenshaltung wichtig ist. Aber sie haben nicht wirklich die Bedeutung des Positiven Denkens begriffen. Vor allem haben sie es dilettantisch, laienhaft betrieben, nicht so systematisch und professionell wie ich. Sie werden noch erleben, wie ich sie mit meinem Erfolg weit übertrumpfe. Und dann wird es ihnen leid tun, dass sie mich so unterschätzt haben.
Stefan beschloss, jetzt gleich sein erstes positives Meisterstück abzuliefern. Nach den gründlichen Vorbereitungen fühlte er sich gerüstet, das Erlesene und Erlernte praktisch auszuprobieren und anzuwenden. Als Versuchskaninchen für den ersten Testlauf war ihm seine schöne Nachbarin Nicole Frohwein gerade recht. Mit seiner normalen Ausstrahlung war er bei ihr keinen Schritt weitergekommen. Sie hatte zwar bei einer weiteren Begegnung im Treppenhaus seinen Gruß erwidert, aber ohne jede Begeisterung und ohne irgendeine Bereitschaft erkennen zu lassen, den Kontakt über ein nachbarschaftliches Pflichtgrüßen hinaus zu erweitern. Doch jetzt würde er seine neue positive Strahlung auf sie richten, sie gezielt mit seiner Tiger-Super-Mega-Mind-Power ''beschießen'', da konnte sie sicher nicht widerstehen.
Zunächst musste er sich natürlich die gewünschte Situation vor seinem inneren Auge ausmalen, am besten wie einen Film im geistigen Heimkino ablaufen lassen.
Also: Sie kommt die Treppe herunter, in diesem offenherzigen roten Kleid, das sie so weiblich macht.
Er steht vor seiner Wohnungstür, lächelt ihr zu und fragt: "Frau Frohwein, haben Sie sich schon gut in unserem Haus eingelebt?" Mit dem "unser" wäre eine erste Verbindung zwischen ihnen hergestellt.
Darauf musste sie einfach antworten, etwa mit "Ja, denn es gibt so nette Menschen hier."
Er fährt fort: "Ich betrachte es als eine Selbstverständlichkeit, eine neue und auch noch so charmante Mitbewohnerin mit einem kleinen Umtrunk in meiner Wohnung zu begrüßen."
Was danach kam, wollte Stefan erst einmal offenlassen. Er fühlte sich noch nicht versiert genug, die Zukunft weiter vorwegzudenken bzw. herbeizudenken. Aber die Treppenszene spielte er immer wieder in seiner Vorstellung durch, wobei er sie mit zusätzlichen liebevollen Details ausschmückte. Am Abend legte oder genauer stellte er sich hinter seiner Wohnungstür auf die Lauer.Er hatte schon zweimal erlauscht, dass sie oft am Abend gegen 20 Uhr das Haus verließ (hoffentlich steckte da kein Mann dahinter!). Vielleicht hatte er Glück, und sie kam wieder um die gleiche Zeit. Und er hatte Glück, so schien es ihm, jedenfalls kam sie exakt um 20:11 Uhr die Treppe herunter. Er kannte inzwischen ihren Schritt. Also dann: Stefan holte tief Luft, pumpte sich positiv auf und trat vor die Tür.
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