- Dein Mund ist so schief und steht offen, als ob du eine aufs Maul bekommen hättest. Hast du eine Kiefersperre?
- Typisch. Da lächelt man dir mal freundlich zu, und das ist der Dank.
- Wenn du so aussiehst, wenn du freundlich bist, ist es mir lieber, du bist unfreundlich zu mir.
Stefan zuckte mit den Schultern. Dieser ungehobelte Mensch war eben für den Wert eines Lächelns nicht empfänglich. Es war sein Zimmerkollege Alfred, ein großschnäbeliger Yuppie-Typ. Nicht umsonst wurde er meistens Alf genannt, weil seine unverblümte Direktheit an den bekannten TV-Außerirdischen erinnerte. Gutwillige nannten ihn Alf, andere sprachen hinter seinem Rücken von "Alfred, das Ekel".
Stefan ging zur Sekretärin des Gruppenleiters rüber. Sie war die "Büro-Mutter", eine Seele von Mensch, und würde bestimmt anders auf sein nettes Lächeln reagieren. In der Tat.
"Tut es sehr weh?" fragte sie mitfühlend.
"Was denn bitte?" fragte Stefan leicht gereizt zurück.
"Sie haben doch sicher Zahnschmerzen."
Jetzt reichte es ihm. Er ließ sie stehen und ging an seine Arbeit. Beim Mittagessen saß er in der Kantine Kollegin Frau Redlich gegenüber, einer ausgesprochenen Zicke mit zottligem roten Haar, die sich dauernd über alles mögliche und unmögliche beschwerte. Sie guckte ihn so komisch an, weshalb er angriffslustig zurückguckte, nein zurückstarrte, länger als eigentlich nötig. Da zuckte sie zusammen und versenkte den Kopf in ihre Suppe, bis zum Nachtisch guckte sie nicht mehr hoch.
Kurz nach dem Essen wurde Stefan zum Gruppenleiter gerufen. Der hatte wegen seiner auffallend künstlichen Dauerwelle den Spitznamen "Locke" weg oder - da er promoviert war - "Dr. Locke". Locke kam direkt zur Sache.
- Frau Redlich hat sich beschwert. Sie hätten sie das ganze Essen lang anzüglich angegrinst, ich zitiere: "wie ein richtiger Chauvi".
- Ich weiß nicht, was in Frau Redlich gefahren ist. Dabei habe ich ihr nur einmal zugelächelt.
- Aber Sie grinsen ja immer noch so merkwürdig. Machen Sie den Mund doch mal zu.
Stefan versuchte es, er versuchte es wirklich. Doch hatte er gestern den Mund nur mit Mühe aufbekommen, bekam er ihn heute einfach nicht mehr zu.
"Ich habe Zug gekriegt", stieß er hervor. "Deswegen ist der Mund verzogen. Das ist wie ein schiefer Hals. Nur bei mir ist eben der Mund schief."
Der Gruppenführer runzelte die Stirn. Er schien nicht sehr überzeugt von Stefans Antwort. Doch dann nahm sein Gesicht einen eher wohlwollenden Ausdruck an.
"Herr Glanz, Sie sind ja nicht gerade als Chauvinist hier im Hause bekannt. Und die Frau Redlich ... Sie wissen schon. Aber wir sind von oben angehalten, schon auf einen Verdacht von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu reagieren. Nun gehen Sie. Und sehen Sie zu, dass Sie Ihren Mund möglichst schnell wieder zu bekommen. Notfalls nehmen Sie frei und besuchen den Zahnarzt. Und setzen Sie sich bitte, bis Sie geheilt sind, nicht Frau Redlich gegenüber."
Locke seufzte, und Stefan war erleichtert, abtreten zu können. Und er fühlte sich noch erleichterter, als er mit seinem missverständlichen Gesicht wieder zu Hause in Sicherheit war. Eins stand für ihn fest: Mit der Lächel-Methode lerne ich das Positive Denken nie. Ich bin dem Tiger auf den Leim gegangen.
Es funktionierte eben nicht, positiv denken zu lernen, indem man einfach sein Gesicht einer Lächel-Dressur unterwarf - das war wirklich lächerlich. Das Positive musste von innen kommen, erst mussten die Gedanken sich ändern, dann folgte das Gesicht - hoffentlich - von alleine nach.
Also gut, ein zweiter Anlauf. Diesmal würde er es ernsthaft angehen und sich mehr Zeit lassen. Wer glaubte denn auch schon einem lächelnden Tiger? Wenn es noch ein rosaroter Panther wäre ...
3 ICH DENKE POSITIV, ALSO BIN ICH POSITIV
Am Abend machte Stefan es sich mit dem Buch "Die Superkraft Positiven Denkens" bequem. Der Autor hieß "Montag". Das war ein bisschen enttäuschend. Für den Autor eines solchen Werkes hätte besser der Name "Sonntag" gepasst, oder "Samstag", notfalls auch "Freitag". Aber "Montag"? Da dachte man spontan: "Schade! Das Wochenende ist vorbei." Doch davon durfte man sich nicht abhalten lassen.
Montag begann mit dem Satz: "Wenn Sie sagen: Dieses Buch bringt mir Erfolg, sprechen Sie die Wahrheit. Und wenn Sie sagen: Dieses Buch bringt mir keinen Erfolg, sprechen Sie ebenfalls wahr." Stefan schüttelte den Kopf. Das klang reichlich widersprüchlich. Aber Montag lieferte sofort die Erklärung. Entscheidend ist, dass man an den Erfolg des Positiven Denkens glaubt, nur dann funktioniert es. - Wenn das so ist, sagte sich Stefan, dann glaube ich doch lieber an den Erfolg als an den Misserfolg, denn ich will ja erfolgreich werden.
Der Autor erläuterte weiter: Positives Denken bewirkt positive Gefühle und Handlungen, negatives Denken bewirkt negative Gefühle und Handlungen. Und Montag gipfelte in der Behauptung:
"Der berühmte Philosoph Descartes sagte: 'Ich denke, also bin ich.'
Ich aber sage. 'Ich denke positiv, also bin ich positiv.'
Das ist viel positiver als Descartes' Ausspruch."
Die meisten Menschen denken negativ, schalt Montag. Um Unglück gegen Glück einzutauschen, brauchen Sie aber nur ihre negativen Gedanken durch positive zu ersetzen. So einfach ist das.
Nun kam eine Überraschung: Das wirklich Wichtige am sogenannten Positiven Denken ist gar nicht das Denken. Denn des Gedankens Blässe reicht nicht aus, um irgendetwas zu verändern. Erst muss der graue Gedanke versinnlicht werden, durch eine Vermählung mit der Phantasie, indem er durch bunte innere Bilder anschaulich und plastisch wird. Positive Vorstellungen sind gefragt.
Es genügt zum Beispiel nicht, einfach zu denken: Ich werde glücklich. Sondern man muss sich in allen Einzelheiten vor seinem inneren Auge ausmalen, wie man als glücklicher Mensch lebt: strahlendes Lächeln im gut gebräunten Gesicht, körperlich vor Gesundheit strotzend, von freundlichen oder gar bewundernden Menschen umringt, am besten noch neben einem Nobelschlitten.
Das schlichte deutsche Wort "Vorstellung" reichte allerdings kaum für ein solches farbenprächtiges inneres Gemälde. Gottseidank gab es ein wohltönendes Fremdwort: Imagination. Dieser Wortklang beflügelte von sich aus schon die positiven Gedanken.
Zwar fühlte Stefan große Lust, die Glücks-Imagination sofort auszuprobieren. Aber er hatte sich ja die Finger oder besser den Mund schon einmal dadurch verbrannt, dass er zu früh und zu schlecht vorbereitet in die Praxis gesprungen war; diesmal wollte er sich erst genauer und umfangreicher informieren. Neugierig griff er daher zu dem nächsten Buch, obwohl er mit Montag noch nicht ganz fertig war.
Er wählte: "Mind Power" von einem Autor namens Pill. Mr. Pill war unverkennbar Amerikaner und sein Buch unverkennbar amerikanisch. So amerikanisch, dass der Verlag auch in der deutschen Übersetzung viele Amerikanismen stehen gelassen hatte. Das fing schon mit dem Titel an: "Mind Power" statt "Geisteskraft". Oder z. B. "Visualisation" für "Vorstellung" und natürlich auch "Positive Thinking“ anstatt „Positives Denken“.
Pill forderte den Leser auf: "Don't worry, be happy!" Es ist sinnlos, sich Sorgen zu machen, das führt zu nichts. "Take it easy!" Jeder kann Erfolg haben - "the american dream". Allerdings muss man schon etwas für sein Glück tun, nämlich positiv denken. So wird man vom Tellerwäscher zum Millionär, so erreicht man den "american way of life".
Stefan blieb etwas skeptisch, ob der amerikanische Lebensstil wirklich verlange oder sogar darin bestehe, Millionär zu sein. Schließlich war bekannt, dass Millionen Amerikaner an oder unter der Armutsgrenze lebten. Aber solche Ausführungen passten wohl nicht in ein Positiv-Buch. Da las sich doch viel besser die "Story" von Herrn N. V. aus L. in N. Herr N. V. war der personifizierte Misserfolg: miese Gesundheit, mieser Job, miese Laune, mieses Auto und auch miese Ehefrau. Kein Wunder, dass er da auch selbst ein Miesling war! Dann lernte er durch ein Buch von Pill, seine "mind power" einzusetzen. Er "visualisierte", wie er bei bester Gesundheit, als Chef eines Unternehmens, in strahlender Laune, einen Super-Cadillac fuhr, neben sich seine (neue) bildhübsche, charmante Gattin.
Читать дальше