Jo hielt das morsche Papier gegen das Licht. Ach nee! Da hatte sich der Jemand richtig Mühe gegeben. Die Taktstriche folgten genau den Kästchengrenzen auf der Rückseite. Machte fünf pro Zeile. Nur waren die Takte einiges höher als die Kästchen. Jo schätzte, dass zu den fünf Kästchenreihen nur drei mal fünf Takte passten. Also fünfzehn. Nicht sehr lang für ein Klavierstück.
Über den Noten gab's noch ein paar Wortreste. Jo versuchte sie zu entziffern.
Wo ng Theoph Zar oder so ähnlich.
Ein Zar? War ein russische Herrscher. Gewesen. Früher.
Jo blickte aus dem Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen erreichten das Tor mit der Zugbrücke, der Burghof lag noch im Schatten. Sie versuchte, die Wörter zu ergänzen. Theo, Zar von Russland vielleicht. Oder: Wo hing Theo? Alles Blödsinn. Blick zurück. ph wird wie f ausgesprochen. Theoph – Theophi – Theophanes. Wonnigste Verehrung dir, Theophanes, Zar aller Russen .
Gequirlter Quark. Außerdem viel zu lang. Sie wurde aus dem Ganzen nicht schlau.
Jo sah wieder aus dem Fenster. Eine Elster verschwand im linken unteren Eck. Da stand der Wecker. Der große Zeiger auf der Zwölf und der kleine auf der Zehn. Ach du Schreck! Jo klemmte den Zettel in das Buch Britta und der Ritter und warf es vor ihr Bett. Jetzt aber los!
Sie rannte, als würde sie vom Kopflosen Kunz durch die endlosen Flure und Treppen der Burg gejagt. Die achtundachtzig Turmstufen hinunter, am Arbeitszimmer ihrer Stiefmutter vorbei, rechts in die Ahnengalerie rein, dem Porträt von Meinhardt dem Dicken (dem sie neulich drei schwarze Haare in jedes Nasenloch gemalt hatte) die Zunge rausgestreckt, drei Meter Rutschbremsung und scharfe Kurve in den Seitentrakt. Dort befand sich ein ehemaliger Wehrturm und darin (seit Heinrich dem Dichter) das Musikzimmer. In dem ein Cembalo immer ungeduldiger klimperte. Einen Moment lang keuchte Jo die dunkle Eichentür an. Dann klopfte sie.
„Herein!“
Mit dem rechten Ellenbogen drückte Jo den Messinggriff runter und schob die Tür auf. Das Quietschen kannte sie. Ein Tröpfchen Öl war seit Raubritter Arnulfs Zeiten überfällig. Ihr Blick fiel auf das Cembalo und die klapperdürre Gestalt mit der schwarzen Mähne dahinter. In einem altmodischen Frack und abgewetzter Jeans, die mit reichlich Hochwasser über ausgelatschten Turnschuhen endete, steckte mit kritischem Blick zur Uhr Rubens Bogdanov. Klavier- und Geigenlehrer der Breselner Musikschule.
„Hereinspaziert, junge Dame, der Unterricht begann vor zwei Minuten.“
Super Laune!, dachte Jo. Herr Bogdanov streckte den Rücken und spielte ein a auf dem Cembalo. Geräuschvoll sortierte er ein paar Notenblätter, bis Jo ihre Geige gestimmt hatte. Dann nahm er seine Violine, lächelte schmal, und gab den Einsatz. Sie fiedelten durch drei Duette, deren Oberstimme Jo einigermaßen drauf hatte. Immerhin wanderten Bogdanovs Augenbrauen eine Winzigkeit in die Stirn. Lob war nicht gerade seine Stärke.
Nach dem Geigenunterricht trabte Jo zurück zum Burgturm. Beim Arbeitszimmer ihrer Stiefmutter verriet ein schmaler Lichtstreifen unter der Tür die Anwesenheit der Baronin.
„Autsch!“
Jo blieb stehen und blickte sich um. Das konnte nur aus dem Zimmer gekommen sein. Jo war die Neugier in Person, wie üblich. Auf Zehenspitzen schlich sie näher, hockte sich hin und spähte durch das riesige Schlüsselloch. Als sich ihr Auge an das trübe Licht im Zimmer gewöhnt hatte, sah sie die Burgherrin. Baronin Tusnelda. Sie saß hinter einem mächtigen Schreibtisch aus dunkler Eiche und starrte regungslos auf die gegenüberliegende Wand. Mit ihren aschegrauen Augen. Spitze Knochen spannten die Haut der Wangen wie Segel und standen in merkwürdigem Gegensatz zu den hängenden Mundwinkeln. Den immer hängenden Mundwinkeln.
Noch viel merkwürdiger aber war, was sie in den Fingern hielt. Eine Spritze, ganz eindeutig. Silbern und schmal mit einer langen stählernen Nadel. Damit hatte sie sich offenbar gestochen. Jo hielt den Atem an, während Tusnelda langsam die Hand hob und einen Tropfen Blut von der Fingerkuppe leckte. Dann beugte sich die Baronin hinunter und zog etwas aus ihrer Handtasche. Ein kleines Fläschchen. Sie betrachtete es von allen Seiten. Ein dünnes Lächeln wanderte über ihre Lippen. Mit spitzen Fingern schraubte Tusnelda den Deckel von dem Glas und steckte die Nadel hinein. Millimeter für Millimeter zog sie die Spritze auf, bis sie dunkelrot glänzte. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Dann griff sie in die Schublade und holte einen matt schimmernden Gegenstand heraus.
Gut, dass alte Türen so riesige Schlüssellöcher hatten. Jo ging noch dichter heran. Tusnelda drehte den Gegenstand vor ihren Augen. Sie bewegte den Mund, als spräche sie zu ihm. Es war ein Ring. Eine goldene Schlange, den Kopf auf einem tiefblauen Stein. Jo spürte kaum ihre Fingernägel, die sich in die Handballen drückten. Der Knittelsteiner Burgring! Das alte Erbstück von Ritter Kunibald! Aber was machte die da?
Die Baronin stach die Stahlnadel in eine Spitze der gespaltenen Zunge. Die Zunge war hohl. Jo kannte die ersten Sätze der Burgchronik auswendig. Langsam drückte Tusnelda die rote Flüssigkeit in den Schlangenkopf.
Jo verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den andern. Ein Stein knirschte unter ihrer Sohle. Tusnelda blickte auf. Wie in Zeitlupe erhob sie sich. Schritt für Schritt durchquerte sie den Raum. Rumms! riss sie die Tür auf und starrte den Flur entlang. Niemand war zu sehen.
Nur ein Schatten oben auf der Wendeltreppe zitterte.
Um halb drei musste Jo beim Fräulein von Oelmütz französische Vokabeln wiederholen und schriftliches Dividieren pauken. Später half sie Emma in der Küche. Was sie gern tat, denn Emma hatte Jo in ihr großes Herz geschlossen. Um halb fünf räumte Jo das Gästezimmer auf, das ihre Cousins Kurt und Knut beim letzten Besuch als Schlachtfeld hinterlassen hatten. Abends spielte sie Schach, wie immer gegen sich selbst. Aber es ging heute nicht wie sonst. Es war ihr, als starrte sie die schwarze Dame unentwegt an. Warum hatte Tusnelda etwas in Kunibalds Ring gespritzt? Und vor allem was?
In der folgenden Nacht träumte sie schreckliche Dinge.
Das laute Krächzen der Elster brachte Jo zurück in die Kälte des Freitagmorgens. Flatternd stürzte sich der Vogel in den Wind und glitt über die Wipfel des Breselwaldes hinunter aufs Städtchen zu. Bresel. Mit Schulen und normalen Lehrern. Freundinnen und Nachmittagsverabredungen. Jo seufzte. All das konnte man in einer Burg vergessen. Sie verteilte die letzten Brotkrumen auf der Mauer und machte sich an den Abstieg.
„Wassattassubedeuten – nichwa – wassollassiermittaTasche – imRosenbeet!!!“
Jan starrte auf die klobigen Lederschuhe. Blaue Arbeitsklamotten wuchsen von dort über eine fußballrunde Wampe und endeten unter einem ausladenden Vorsprung: dem Bratpfannenkinn von Radolf Müller-Pfuhr. Oberhalb der Bratpfanne öffneten sich zwei Reihen goldgefüllter Zähne.
„DuTunichgut – kommsinneBesserungsanstalt – anstattassueinmalaufpasst – ungezogenerBengel – ichwerdemitteinerMuttermalüberdichreden – numachassuwekkommst!!!“
Jan wusste, jetzt musste schnell gehandelt werden. Es war völlig zwecklos dem bellenden Müller-Pfuhr zu erklären, dass er genauestens die Flugbahn der Schultasche berechnet hatte. Oben vom ersten Stockwerk aus. Sie hätte eigentlich exakt zwischen Rosenbusch und Lavendel landen müssen. Eigentlich. Irgendwas war schief gelaufen. Vielleicht hatte sich die Erde unter dem fliegenden Ranzen weiter bewegt. Nur ein kleines gemeines Stückchen. Aber das hatte gereicht, um ihn mit voller Wucht in den knospenden Rosen landen zu lassen. Mist! Demnächst also weiter links.
Jetzt aber nichts wie weg, denn schon öffnete sich das Küchenfenster. Agathe streckte das lockengewickelte Haupt heraus und erblickte ihre Blümchen, die – naja – deutlich gelitten hatten. Und wenn Agathe erst loslegte … Jan rupfte die Tasche aus den Dornen und rannte, was die Beine hergaben. In seinem Rücken schepperten Agathes Kreischen und Radolfs Gebell die Breselner Landstraße entlang. Eine Damen-Doppelkopfrunde, die in der Frühlingssonne stadtauswärts radelte, schüttelte die Köpfe über die Ruhestörung. Und die Elster, die von Burg Knittelstein über die Wipfel des Breselwaldes auf das Städtchen zuschwebte, ließ erschrocken etwas fallen. Das Kaninchen darunter war sehr ärgerlich.
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