Und drittens hätte Lafontaine mit der frühzeitigen Übernahme des Parteivorsitzes nicht nur seinen Erfolgsnimbus gefährdet, sondern sich auch einer seiner politischen Stilmittel beraubt: der furcht- und grenzenlosen Provokation. Denn politische Attacken, insbesondere gegen formelle Autoritäten wie den Bundesparteivorstand der SPD, begeht er, so der ehemalige Saarland-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung , Klaus Brill, „aus einem geradezu animalischen Vergnügen am politischen Kampfgetümmel, am Gemenge und Geraufe. Es scheint, als sei ihm das Kräftemessen mit einem von ihm herausgeforderten Gegner vor gebanntem Publikum eine sportive Leidenschaft, ein Elixier, das er benötigt, um sich seiner selbst zu vergewissern. Seine Art gesellschaftlicher Fortbewegung ist die Rebellion.“72 Das zeigt sich etwa 1987: Ungeachtet zweier Anwärter auf den vakanten Posten des Bundesschatzmeisters, die unterschiedliche Unterstützer in der Parteispitze haben, bugsiert Lafontaine kurzerhand den ehemaligen Hamburger Regierungschef Hans-Ulrich Klose als seinen Kandidaten an Brandt, Rau und Vogel vorbei in diese Elite-Position. Dieses Manöver lässt die übrige Parteielite blamiert zurück und scheint ein vielsagendes Indiz für die mittlerweile bereits große Macht des Saarländers zu sein.73
Vermutlich ist diese Demonstration faktischer Macht ein Ersatz für die fehlenden offiziellen Befugnisse; vielleicht hat Lafontaine einen Punkt erreicht, an dem er sich zumindest seiner Durchsetzungsfähigkeit vergewissern muss, wenn er schon nicht das eigentlich dazugehörige Amt des Parteichefs einnehmen will. Mit der Klose-Personale demonstriert Lafontaine seine tatsächliche Macht, die in diesem Ausmaß durch kein Amt formell verbürgt ist und die er deshalb auch nicht mit einem entsprechenden Amt verbürgt sehen muss. Auch macht ihn dies zum heimlichen Parteivorsitzenden; heimlicher Vorsitzender zu sein, macht hin indessen wohl noch interessanter, faszinierender und ist daher vermutlich auch die bessere Alternative, als das offizielle, satzungsmäßige Amt zu bekleiden. So kann er also auch weiterhin gegen übergeordnete Autoritäten aufbegehren und sich gegen das Parteiestablishment in Szene setzen.
Hinsichtlich einer Periodisierung von Lafontaines politischer Karriere bleibt an dieser Stelle festzuhalten: In den 1980er Jahren avanciert der Saarländer zum Star der SPD – womit er die Möglichkeiten, die sich ihm dargeboten haben, nahezu vollständig ausgeschöpft hat. Seine Macht ist groß genug, dass sich nahezu die gesamte SPD-Parteispitze über seine Volten aufregt, ihm aber trotz offener Widersprüche keine harte Kritik entgegenschlägt, er nicht einmal intern im geschlossenen Kreis gerügt wird.74 Früh schon spricht man, gleichermaßen bewundernd wie verdutzt, von der „Lafontainisierung“75 der SPD, von der „Methode Lafontaine“76, die im Bund verlorene Macht schrittweise auf Kommunal- und Landesebene zurückzugewinnen. Andere aus Lafontaines Kohorte, den „Enkeln“ Willy Brandts, sollen es ihm in den folgenden Jahren gleichtun: Gerhard Schröder 1990 in Niedersachsen und Rudolf Scharping 1991 in Rheinland-Pfalz.
Kanzlerkandidatur, Parteivorsitz und Machtwechsel: die 1990er Jahre
Folgerichtig lässt sich Lafontaine zum Kanzlerkandidaten küren. So will er es haben: Die Partei ruft ihn, womit er misserfolgsvermeidend nicht in der Rolle des Drängenden, sondern Gedrängten steckt, zumal er sich durchaus in der Lage sieht, Kohl im Kanzleramt abzulösen. Bis 1990 hätte man die Geschichte von Lafontaines politischer Karriere auch als vorgezeichneten Weg zur Kanzlerschaft erzählen können. Denn was lag näher, als dass ein Mann vom politischen Profil Lafontaines – ökologiebewusst, pazifistisch, insgesamt progressiv, dabei aber auch sozialstaatlich – angesichts eines Kontrahenten vom Schlage Helmut Kohls nach der Bundestagswahl im Dezember 1990 Kanzler werden würde? Bis dahin ist Lafontaine ein faszinierender Siegertyp gewesen, jung, dynamisch, fortschrittlich, mediengewandt – oder wie die Konstellation in jenen Tagen beschrieben wird: Die SPD tritt an mit dem „sieggewohnten, managementerfahrenen Internationalisten aus Saarbrücken gegen den bräsig-nationalen CDU-Kanzler aus Oggersheim“77. Und tatsächlich scheint irgendetwas dran zu sein an der überschwänglichen These, Lafontaines Erfolge hätten „bei den Genossen zu fast mystischem Vertrauen in Fortüne und Fähigkeiten des saarländischen Lebenskünstlers und Tabubrechers geführt“78. Doch es ist Kohl, der am Ende gewinnt. Denn Lafontaines politische Biegsamkeit reicht für einen Wahlsieg im zwischenzeitlich wiedervereinigten Deutschland nicht aus. Lafontaines Kandidatur ist auf eine allein westdeutsche Wahl ausgelegt gewesen. Womöglich hat er sich in der neuen Situation der „Wende“ ganz einfach überschätzt, indem er irrtümlich annahm, Kohls Kurs der schnellen Verschmelzung zweier wirtschaftlich gänzlich konträr situierter Staaten würde sich noch vor dem Wahltag als falsch erweisen.79
Die Gründe für die Niederlage des politischen Shootingstars der 1980er Jahre, Lafontaine – gegen den als „Birne“ verspotteten Amtsinhaber Kohl, der schon Ministerpräsident war (1969), als Lafontaine noch frischgebackenes Parteimitglied war (seit 1966) –, sind schnell benannt: Die Menschen in beiden Teilen Deutschlands, dem Osten wie dem Westen, wollen 1990 die damaligen Geschehnisse mit historischer Bedeutung aufgeladen wissen und die Teilung in einer Wiedervereinigung aufgelöst sehen. Lafontaine aber begegnet der Vereinigungseuphorie mit demonstrativer Geringschätzung, ja Verachtung.80 In dieser Angelegenheit gibt er sich sogar als Hardliner, will nach dem Mauerfall nur solche DDR-Bürger in sein Bundesland übersiedeln lassen, die sich von ihrer Heimat aus bereits Wohnung und Job besorgt haben,81 will „die prämieren, die bleiben“82. Jeder Wahlkampfberater würde angesichts dieser Haltung die Hände über dem Kopf zusammenschlagen – und viele in der SPD tun dies auch in jenen Tagen. Lafontaine aber, nun einmal nicht der politische Fährtenleser, sondern der sachverständige Bedenkenträger, sieht zuvorderst die mit einer überstürzten Vereinigung verbundenen Probleme, antizipiert den wirtschaftlichen Kraftakt, der seitens der Westdeutschen notwendig sein wird. Damit mag er zwar eine realistischere Haltung einnehmen als Kohl – doch dessen optimistische Aussicht, aus der maroden DDR „blühende Landschaften mitten in Europa zu machen“83, ist eben um einiges erbaulicher als Lafontaines politischer Pessimismus, der vielen Bürgern und öffentlichen Meinungsmachern schlicht missfällt. Das Pressebild ist nicht der schlechteste Indikator für die Stimmung einer Zeit: Kurz vor dem Wahltag berichtet der Spiegel vom „längst abgeschriebenen Kandidaten“, der sich zwar gut schlage, aber „nahezu ohne Siegeschance gegen den amtierenden Kanzler Helmut Kohl ist“.84
Aus der Sicht des SPD-Kanzlerkandidaten ist es aber auch eine frustrierende Situation: Die plötzlich hereingebrochene Wiedervereinigung verdichtet sich zu einem politischen Ereignis, das als überraschende Zäsur das politische Programm von Lafontaine mit einem Mal obsolet werden lässt.85 Und ob es nun Trotz oder Überzeugung ist: Die Persönlichkeit des Kandidaten ist nicht in der Lage, sich dem gewandelten Umfeld anzupassen; hier ist der Saarländer, dem häufig Opportunismus unterstellt wird, alles andere als opportunistisch. Lafontaine trifft nicht die politische Stimmung der Vereinigungsromantik, Kohl schon. Unter diesem holen die Unionsparteien (43,8 Prozent) zehn Prozent mehr als die SPD (33,5 Prozent) – obendrein erhalten die Sozialdemokraten sogar 3,5 Prozent weniger, als sie 1987 mit Johannes Rau an der Spitze erreichten. Hätte Lafontaine lautstark in den Wiedervereinigungschor eingestimmt, wäre er zwar noch immer nicht automatisch Bundeskanzler geworden; doch zweifelsohne hätten sich seine Chancen enorm verbessert. So aber ist er in der Tat der „falsche Mann zur falschen Zeit“86. Und wer Stoff für gerechtfertigte Politikverdrossenheit sucht, kann Lafontaines Niederlage als einen Beleg auffassen für die politikverdrießliche Annahme, dass sich skeptischer Realismus in der Politik eben nicht auszahlt. Die Erwartungshaltung der Wähler, so zukunftsvergessen diese auch sein mag, will bedient, zumindest nicht ignoriert werden.
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