Rechtsanwalt Lenning war an diesem 11. September spät ins Bett gegangen. Die Ereignisse des Tages hatten ihn belastet und sie waren auch nicht ganz spurlos an ihm vorübergegangen. Zeitweise plagten ihn regelrechte Alpträume. Einmal riss ihn jemand an seinem Bart (zu dieser Zeit trug Lenning gar keinen Vollbart) und schrie ihn an. Er verstand zunächst die Sprache nicht. Dann erschien ihm die Sprache orientalisch. Immer und immer wieder verlangte eine Gruppe von Uniformierten seinen Namen bzw. er solle eingestehen, dass er dieser jemand sei. Als Lenning erwachte, war er schweißgebadet. An Namen konnte er sich nicht erinnern. Nur noch an die hasserfüllten Blicke und an das grobe Reißen an dem zur Zeit nicht vorhandenen Bart. Lenning fuhr sich mit der rechten Handinnenfläche über das Kinn. Am nächsten Tag würden diese Stoppeln von einer sanften Rasur entfernt werden und die Haut würde wieder zart sein wie ein... Lenning riss die Hand vom Kinn und schlug sich mit der Innenfläche auf die Stirn. „Was hat Ellen damit gemeint?“ und was er sich als nächstes dachte, plagte ihn mehr als das Reißen am Bart. „Was hat Ellen mit „Hamburg“ gemeint?“
Lenning stand auf, ging zu der Kommode hinüber, auf der eine Kristallkaraffe Cognac stand und schenkte sich in den riesigen Cognacschwenker so viel ein, dass er sich sicher war, in dieser Nacht nicht mehr zur Kommode gehen zu müssen und kehrte in sein Bett zurück. Hildegard schlief fest. Er betrachtete die Schlafende mit einem gewissen Erstaunen. Die letzten Jahre mussten ihr sehr zugesetzt haben. Ihm war gar nicht bewusst geworden, dass sie in der allerletzten Zeit erheblich gealtert war. Er blickte zum Spiegel und sah sich selbst an.
„Na ja, jünger geworden bist Du auch nicht!“ sagte er zu sich selbst, „Aber so ganz ohne Bart und frisch rasiert?“ Er nippte nunmehr zum wiederholten Male an seinem Cognac und lief noch mal hinüber zur Kommode, denn der Cognac schmeckte anders als erwartet. Sicher hatte Hildegard mit ihrem Sparfimmel einen billigen Cognac in diese Karaffe gefüllt. Er stand kurz davor, sie aufzuwecken. Das war kein XO-Cognac. Er stellte das Glas zurück und löschte das Licht. „Was hat Ellen heute mit „Hamburg“ gemeint?“
Lenning war bis zu diesem Moment eigentlich davon ausgegangen, dass er Ellen von bestimmten Dingen, die er anlässlich einer Dienstreise im Sommer 2001 in Hamburg erlebt hatte, nichts erzählt hatte. Dies waren keine wirklichen Heimlichkeiten Ellen gegenüber – Ellen war zu empfindlich für wirklich aufregende Mitteilungen; sicher wäre sie nicht glücklich darüber gewesen, zu hören, dass Hildegard ihn auf dieser Reise begleitet hatte, die dort auch einen Termin hatte. Sicher hätte er Ellen diese Umstände auch nicht verschwiegen, wenn sie gefragt hätte. Allein aus dem Umstand, dass sie nicht fragte, schloss Lenning, dass Ellen grundsätzlich Bescheid wusste und auf Marginalien kam es keinem von ihnen an. Lenning hatte damals einen Gerichtstermin am Landgericht Hamburg. Dieser Termin war eine große und wichtige Angelegenheit und er war auch dem Mandanten persönlich freundschaftlich verbunden.
Nach längerer Zeit sollte er Rooy van Johnson wieder einmal sehen. Rooy war als Kind mit seinen Eltern nach Australien ausgewandert und hatte sich dort eine recht ordentliche Position als Importkaufmann aufgebaut. Im laufenden Fall ging es um eine schwierige Wettbewerbsrechtssache und Rooy ließ es sich trotz seiner Herzkrankheit nicht nehmen, zu allen wichtigen Verhandlungen nach Europa zu kommen. Begleitet wurde er von einer Freundin, die kaum Rooys Traum von einer Frau sein konnte. Dennoch gewann Ruth, - so hieß diese ehemalige Krankenschwester – sehr in der Unterhaltung. Sie war witzig und recht gebildet. Rooy und Ruth kamen diesmal über Amsterdam nach Hamburg und wollten mit Lenning nach der Verhandlung im Watt spazieren gehen. Rooy kannte das Watt nicht und hatte von Ruth, einer gebürtigen Holländerin, doch einiges davon gehört. Sie schwärmte von Friesland und dachte dabei an die westfriesischen Inseln. Rooy hatte dies alles Lenning mitgeteilt und dieser versprach, ihn zu den nordfriesischen Inseln zu bringen und so war man in gespannter Erwartung, als Lenning mit Rooy und Ruth aus dem Gericht kamen.
Lenning hatte Hildegard und Freddy im Auto warten lassen, weil ein regulärer Parkplatz um diese Zeit nicht zu finden war. Am gleichen Tag wurde im Gerichtsgebäude gegenüber gegen die Oetker-Entführer verhandelt, sodass allein schon wegen dieses Spektakels Parkplätze Mangelware waren.
Als sich endlich alle begrüßt hatten, ging es gleich aus der Stadt. Rooy fuhr mit dem Leihwagen, einem nagelneuen blauen Opel Omega, immer hinter Lenning her und als dieser an einer Tankstelle abbog, folgte ihm auch Rooy hier. Zu groß war seine Angst, Lenning im Verkehr zu verlieren und dann keinen Kontakt über Mobiltelefon zu finden: Rooy´s Mobiltelefon war ebenso wie das von Ruth in Australien registriert und es bestanden trotz modernster Technik oftmals Probleme, mit diesen Geräten in Europa zu telefonieren. Rooy folgte auch Lenning auf die Toilette der Tankstelle, als dieser sich dorthin begeben musste.
„War nicht alles Scheißdreck?“ fragte Rooy mit niederländischem (Limburger) Akzent und einem gemischten Lächeln und meinte damit die Gerichtsverhandlung.
„Nein, es geht weiter, wir werden wohl zu einer Beweisaufnahme kommen und dann kannst Du wieder nach Europa zurückkehren.“
Rooy nahm die Sache humorvoll. „Jedesmal 13.000 Meilen einfach und dann so eine kurze Verhandlung, das ist doch...“
Lenning lachte. „Lieber Rooy, ich habe Dir gesagt, Du hättest gar nicht kommen müssen, aber wenn Du jetzt schon mal da bist, ist auch nicht schlecht, reisen ist Erfahrung sammeln.“
„Davon habe ich genug,“ lachte Rooy grimmig. „Hier möchte ich eine neue Erfahrung machen, vor Gericht.“
Die beiden kehrten zu den Fahrzeugen zurück, nachdem Lenning die Tankrechnung bezahlt hatte.
„Wie lang kennen wir uns jetzt schon Wolf?“ fragte Rooy. „Doch bestimmt 10 Jahre!“
„Nicht ganz 10 Jahre, Rooy, aber lange genug, um zu wissen, dass Du gern nach Europa kommst; ich werde Dich das nächste Mal in Australien besuchen“, versuchte Lenning einzulenken.
Rooy hatte Lenning in Hildegards Büro in Braunschweig kennengelernt. Er war damals von der dortigen niedersächsischen Anwaltskammer zu Lenning und Partner verwiesen worden, weil Lenning auch Wirtschaftsprüfer war und der damalige Fall nach Meinung Rooys besonderer Begabung durch den betreuenden Anwalt bedurfte, von dem man auch wirtschaftliches Fachwissen erwartete. Tatsächlich war der damalige Rechtsstreit in erster Instanz verloren gegangen, was wohl ausschließlich auf die Unfähigkeit des Landgerichts zurückzuführen war. Später wurde die Entscheidung vom Oberlandesgericht zwar korrigiert, aber Rooy war das nicht genug, er wollte einen weitergehenden Schadensersatzanspruch durchsetzen, wagte aber aus Mitleid mit dem damaligen Beklagten nicht den Gang vor das Gericht, bis der Anspruch schließlich verjährt war, worauf er vorher schon ständig von Lenning hingewiesen worden war.
Rooy hatte im Übrigen einen reizenden Charakter. Er war zutiefst antiklerikal gesinnt und dennoch gläubig. Er war Mann von Welt und dennoch bescheiden. Er war sehr, sehr sparsam und dennoch großzügig. Diese ganzen Widersprüche brachten ihn oft in Diskussionen in die Klemme. Auf der einen Seite rügte er einen Bischof, weil dieser immer Flugreisen erster Klasse buchte, während Rooy Flugreisen zweiter Klasse oder Businesstarif vorzog und den Differenzbetrag zur ersten Klasse den Armen des jeweiligen Landes spendete. Rooy hielt viel auf Anstand und Ehrlichkeit und verstand nicht, dass nicht alle seinen Idealen nacheiferten. Andererseits hatte er einen unglaublichen Hass auf alle Finanzämter dieser Welt. Und weil es ihm Freude machte, versuchte er so viel wie möglich an den Finanzämtern vorbeilaufen zu lassen, was ihm schließlich das ein oder andere mal auch erhebliche Nachteile brachte. Politisch war Rooy mehr oder weniger Realist. Hierin glich er Lenning, der auch zwischen rotem Filz und schwarzen Kassen, linken Sprüchen und rechten Parolen immer den Kontakt zum Boden bewahrte und allein schon deshalb mit den gegenwärtigen Zuständen nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt unzufrieden war.
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