„Hallo, Herr Doktor!“ rief sie schon von weitem. „Schön, dass Sie wieder einmal im Lande sind.“
Dann begrüßte sie Ellen und die Kinder, die sie noch nicht gesehen hatte. In diesem Augenblick schaute der Gast an der Bar herüber zu Lennings Tisch. Es geschah in dem Augenblick, als Doro Lenning mit „Herr Doktor“ angesprochen hatte.
Doro flüsterte Lenning zu: „Das ist ein Commissario aus Bozen, der hier einen Fall zu lösen hat.“
Zu ihrem großen Erstaunen kam der Commissario ganz plötzlich von der Bar herüber zum Tisch und grüßte Lenning freundlich.
„Guten Abend, Dottore! Guten Abend Madame!“
„Guten Abend, Commissario!“ erwiderte Lenning, dem plötzlich wieder bewusst war, dass es sich hier um den Commissario handelte, der seinerzeit in Meransen die Ermittlungen wegen der Schießerei geleitet hatte.
„Was führt Sie denn hierher, Herr Kommissar?“ meinte Lenning auf italienisch.
Und der Commissario erwiderte in der gleichen Sprache „Genau das wollte ich Sie auch fragen? Hier sind nämlich zwei Menschen getötet worden.“
Lenning blickte ungläubig auf Doro, die heftig nickte. „Ja, Herr Doktor, stellen Sie sich vor, vorgestern Abend ist drüben beim Pichler Hof ein Auto vorgefahren, zwei Leute sind ausgestiegen und haben vor der Wirtshaustür einen Mann und eine Frau grad so erschossen.“
Lenning blickte den Commissario fragend an. „Ja, da haben Sie es schon gehört und mehr weiß ich auch nicht“, erklärte der Commissario, um jeder Frage Lennings zuvorzukommen.
„Und jetzt machen Sie hier Urlaub, bis der Fall geklärt ist“, lächelte Lenning und klopfte dem Commissario freundschaftlich auf die Schulter. Dieser reagierte humorvoll und lud Lenning dazu ein, ihn bei den Ermittlungen zu unterstützen, ‚damit alles schneller gehen könne’.
„Morgen früh können Sie mich ja ins Leichenschauhaus von Bruneck begleiten. Bei den Toten handelt es sich um Bürger der BRD.“
Lenning schaute Ellen fragend an. „Wir müssen morgen ohnehin Wein einkaufen. Warum sollen wir uns nicht die sterblichen Überreste dieser beiden unglücklichen Menschen ansehen.“
Der Commissario schien sofort verstanden zu haben. „Ach, Sie wollen - wie damals - Wein in der Nähe von Meran einkaufen!“ Lenning bejahte überrascht.
„Dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen.“ Der Commissario nahm ohne dazu aufgefordert zu sein, an der Stirnseite des Tisches Platz, an dem inzwischen die Getränke gebracht wurden.
„Sie nehmen mich in Ihrem tollen Auto bis nach Bozen mit, dann können Sie ihre Einkäufe erledigen und wenn Sie abends zurückfahren, steige ich wieder zu und unterwegs in Mühlbach lade ich Sie zu einem „original-italienischen“ Essen ein.“
Lenning war in der Tat überrascht und man einigte sich darauf, früh morgens über Bruneck nach Bozen zu fahren.
Der Spaziergang hatte insbesondere Ellen und die Kinder ermüdet, so dass diese sich sehr bald verabschiedeten, um nach oben ins Zimmer zu gehen. Wie damals in Meransen blieb Lenning noch eine Weile beim Commissario, der ungewöhnlich offen und freundschaftlich erschien und Lenning über verschiedene Einzelheiten des vor kurzem begangenen Verbrechens informierte.
„Die Getöteten sind Deutsche“, wiederholte er „und stammen aus einem Ort, nicht sehr weit von dort, wo Sie herkommen.“
Lenning horchte auf. „Woher kommen die Getöteten?“
„In ihrem Ausweis steht Bad Nauheim. Ich habe bereits über den Dienstweg mit dem Hessischen Innenministerium Kontakt aufgenommen und die dortige Polizei konnte feststellen, dass ein Herr Jeschke mit Frau derzeit Urlaub macht. Wir gehen deshalb davon aus, dass es sich bei den Getöteten tatsächlich um die genannten Personen handelt.“
Lenning horchte auf. „Jeschke aus Bad Nauheim?“ wiederholte er. „Ich kannte einen Mann diesen Namens. Er war Finanzmakler und hieß mit Vornamen Norbert.“
„Norbert?“ der Commissario runzelte die Stirn. „Im Pass des Getöteten steht ein anderer Vorname.“
„So?“ Lenning kam aus dem Staunen heute Abend nicht mehr heraus. „Wie alt ist denn der Tote?“
„Nach den Daten in seinem Ausweis ist er Mitte 50.“
Lenning überlegte. „Könnte stimmen.“
„Na ja,“ meinte schließlich zum Abschied der Commissario „morgen werden Sie ihn ja sehen und uns vielleicht bei der Identifizierung helfen können. Die Schusswunde hat die Toten nicht sehr entstellt.“
„Entstellt?“ Lenning blickte den Commissario ungläubig an. „Wohin sind sie denn geschossen worden? Etwa ins Gesicht?“
Der Commissario nickte und zeigte mit dem Daumen über die Nasenwurzel. „Circa einen Daumenbreit über der Nasenwurzel sind die Projektile eingedrungen, Kaliber 45 ACP.“
Lenning schauderte. „Dann müssen die Leichen einen recht unschönen Anblick bieten.“
Der Commissario zuckte die Schultern. „Wir haben schon Schlimmeres erlebt.“
Lenning schaute den Commissario nochmals fragend an. „Wer könnte es gewesen sein? Präzise einen Daumen breit über der Nasenwurzel?“ wiederholte er fragend.
Der Commissario nickte abermals. „Auf die kurze Entfernung ist das nicht allzu schwer, aber eine Leistung ist es trotzdem, exakt über der Nasenwurzel.“
„Kennen Sie jemanden, der so schießt?“ fragte Lenning.
Der Commissario blickte Lenning von der Seite an. „Kennen Sie jemanden, Dottore?“
Lenning erwiderte teilnahmslos „Man hört so einiges.“
„Ja.“ bestätigte der Commissario. „Es gibt fast nichts, was man nicht schon vernommen hätte. Gute Nacht, Dottore!“
„Gute Nacht, Commissario.“ Lenning ging mit Dax, dem Labrador, noch mal ins Freie, während der Commissario sich direkt in sein Zimmer begab. Lenning überlegte „Einen Daumen breit über der Nasenwurzel, dass ist nicht untypisch und der Commissario tut, als ob er so etwas noch nicht gehört hätte.“
Die Nacht war kalt und selbst Dax war, entgegen seiner Gewohnheit, sehr schnell bereit, ins Haus zurückzukehren. Lenning fand die Seinen schlafend vor und begab sich ins Bad. So eine Ferienwohnung hat doch große Vorteile, dachte er. Während er das Badewasser einließ, schaltete er den Fernseher ein. Der hiesige Sender brachte keinerlei Nachrichten über den Vorfall und auch aus Afghanistan gab es wenig Neues. Sogar die lokalen Nachrichten im Radio erwähnten den Vorfall im Taufertal nicht. „Möglicherweise eine Nachrichtensperre“, dachte Lenning, wischte den Gedanken jedoch gleich wieder weg, da er annehmen musste, dass in einem solchen Fall der Commissario weniger “zutraulich“ gewesen wäre.
Am nächsten Morgen war es noch recht früh, jedenfalls für einen Urlaubstag. An Lennings Wohnungstür läutete es. Ellen und die Kinder fuhren erschreckt auf. Ihnen war es ganz entgangen, dass es hier, wie in fast jeder gewöhnlichen Wohnung, eine Klingel gab. Lenning begab sich zur Türsprecheinrichtung und fragte, wer da sei.
„Enrico“, hörte er.
„Ah, Signore Commissario!“ Lenning war überrascht. „Sie sind aber früh auf den Beinen.“
„Ja, stellen Sie sich vor, es ist schon 8:30 Uhr.“
„Aber wir wollten doch erst um 9:00 Uhr losfahren.“
Der Commissario wiedersprach. „Wir wollten um 8:00 Uhr beim Frühstück sein.“
Lenning öffnete die Tür.
„Wie lange frühstücken Sie denn üblicherweise?“ fragte er.
„Oh, das Frühstück geht bei mir sehr rasch.“
Ellen war inzwischen fertig und trat in das Wohnzimmer. „Nein, wir möchten feriengemäß frühstücken und nicht so hetzen wie jeden Morgen, wenn die Kinder in die Schule müssen und der Kanzleibetrieb drängt.“
Der Commissario schmunzelte. „Da haben Sie es“, meinte er. „Und wir müssen noch in Bruneck vorbeifahren.“
„Müssen?“ Lenning schaute den Commissario fragend an.
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