Der Commissario blickte gedankenverloren in das vor ihm stehende Rotweinglas und Franzl wollte dies füllen, als er plötzlich aufstand. „Nein danke, Franzl. Für heute ist es genug. Ich habe heute noch sehr viel Arbeit.“
Olschewski blickte Lenning fragend an. Dieser erwiderte Olschewskis Blick mit der Bemerkung. „Ja, Herr Olschewski, hier besteht tatsächlich eine Menge Erklärungsbedarf.“
Olschewskis Gesicht hatte ein Maximum an Falten erreicht und Lenning überlegte, wo Olschewski die ganze Haut herholen würde.
Der Commissario warf Lenning einen vielsagenden Blick zu, als Olschewski zunächst alle möglichen Ausflüchte suchte und dann schließlich erklärte, er verstehe nicht ganz den Inhalt der Fragen. Lenning überlegte noch einmal: Olschewski hatte irgendetwas mit der Sache zu tun, das spürte er. Aber wie weit steckte er jetzt drin. Lenning dachte an das blutige Taschentuch und außerdem fiel ihm der Mann ein, der Olschewski etwas zugerufen hatte und schließlich war Olschewskis Verhalten heute bei den Schüssen mehr als merkwürdig gewesen. Der Commissario wollte gerade weiter bohren, als Lenning ihm ein Zeichen gab, von Olschewski abzulassen. Warum schließlich der Commissario an dieser Stelle das Thema wechselte, ist schwer – wenn überhaupt – nachvollziehbar, denn offensichtlich hegte er gegen Olschewski einen Verdacht. Lennings Zeichen mag ihm auch ein Indiz dafür gewesen sein, dass auch Lenning in irgendeiner Weise Olschewski nicht traute. Der Commissario fragte plötzlich Lenning auf italienisch, ob er irgendetwas im Zusammenhang mit Olschewski wusste, was für die Aufklärung dieser Ermittlungen von Bedeutung sein könnte und Lenning, der nicht wusste, ob Olschewski überhaupt verstand, meinte lapidar: „Possibile.“
Dem Commissario reichte dies und er trank sein Glas aus und wollte gerade gehen, als Lenning ihm nach draußen folgte. Als sie vor dem Hotel waren, hatte es zu schneien angefangen und der Kommissar betrachtete sein Fahrzeug, das schon ganz eingeschneit war.
„Vielleicht bleibe ich besser die Nacht hier“, meinte er mehr zu sich selbst und Lenning bestärkte ihn in diesem Vorhaben, wobei er vielsagend meinte: „Sie und ich, wir wissen, dass Olschewski irgendwas mit der Sache zu tun hat.“
Der Kommissar schaute Lenning an. „Ja, Sie wollten nicht haben, dass ich ihn weiter befrage. Sie hatten sicher einen Grund dafür.“
„Ja!“ klärte ihn Lenning auf, „Ich glaube es ist besser, wenn ich zuvor noch einmal mit ihm spreche, denn sonst könnte er sich festlegen und dann würde keiner mehr etwas aus ihm herausbekommen.“
Der Kommissar lachte: „Meinen Sie nicht, dass wir Mittel und Wege haben, ihn einfach dann hier zu behalten?“
Lenning überlegte: „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wenn Sie jetzt hier bleiben, wollen Sie sich noch einmal mit zu uns setzen?“
Der Kommissar meinte, er müsse erst einige Telefonate erledigen und bei Franzl ein Zimmer buchen. So ging Lenning allein in das Kaminzimmer zurück. Olschewski war gerade dabei, sich die Krawatte etwas herunterzuziehen und den obersten Hemdknopf zu lösen.
„Das war sehr hart“, meinte er, „Der Commissario vermutet irgendetwas dahinter.“
Lenning schaute ihn fragend an: „Was meinen Sie, mit „etwas dahinter“?“
Olschewski zog die Lippen etwas nach unten und fuhr mit der Zunge erst über die Oberlippe und dann über die Unterlippe, als ob er sie etwas benetzen müsste, obwohl er zuvor gerade am Wein genippt hatte.
„Dahinter könnte ich stehen“, sagte Olschewski und schaute Lenning an. „Das heißt, er denkt, ich wüsste mehr und hätte meine Finger im Spiel.“
Lenning trank an seinem Glas. Die beiden waren jetzt allein. Offensichtlich hatte sich die Runde, während Lenning mit dem Commissario nach draußen gegangen war, aufgelöst.
„Ehrlich, Herr Olschewski, glauben Sie, der Commissario wird einfach so darüber hinweggehen? So wie ich, als Sie nicht mehr wussten, wer Ihnen in Bozen zugerufen hatte?“
„Haben Sie das dem Kommissar gesagt?“ wollte Olschewski wissen und wirkte immer nervöser.
„Der Kommissar wollte vor allem wissen, was Sie überhaupt mit der Sache in Bozen zu tun haben, ob Sie mehr wissen, als Sie zugeben und er möchte wissen, was das für ein Schuss war, während Sie uns auf der Abfahrt verlassen hatten.“
Olschewski schaute Lenning treuherzig in die Augen. „Zu alledem kann ich nichts sagen.“
Lenning versuchte, ebenso naiv wie Olschewski zu wirken. „Gut, Herr Olschewski, dann sagen Sie eben, dass sie in Bozen keine Araber gesehen haben, während wir bei Ihnen waren und welche gesehen haben, dass Sie keine Schüsse gehört haben, als wir im Wald waren und dass Sie nur einen besseren Weg heruntergefunden haben, als die übrigen Schlittenfahrer, vielleicht weil Sie schon so nass waren.“
Olschewski blickte einen Moment lang starr vor sich nieder. „Sie werden aber lachen, genauso war es.“
„Ja, genau so“, wiederholte Lenning. „Sie haben nichts gehört und nichts gesehen und jetzt wollen Sie auch nichts sagen.“
Olschewski hatte sein Grinsen zurückgewonnen. „Ich gehe jetzt ins Bett. Bis morgen kann mir viel einfallen.“
Lenning überlegte keinen Moment, was Olschewski am nächsten Tag sagen würde. Er wusste, Olschewski war ein durchtriebener Fuchs, der sich schon mehr als einmal aus der Falle befreien konnte. Aber wie er diesmal dem Commissario entgehen würde, wenn dieser erst mal Olschewski auf Widersprüche aufmerksam machen könnte, das war Lenning im Augenblick unklar. Er begab sich danach zu seiner Familie, nachdem nur noch Franzl einmal kurz am Tisch vorbeischaute und auch das Feuer im Kamin am Erlöschen war.
Als Lenning und Ellen am nächsten Tag zum Frühstück gingen, waren die Kinder schon vorausgeeilt. Sie wollten unbedingt bestimmte Brötchen “erbeuten“, die später von allen Gästen vorzugsweise aufgegessen worden wären. Lenning und Ellen machten sich nicht so viel aus diesen weißen weichen Brötchen, sondern nahmen lieber Bauernbrot mit Kümmel und Fenchel. Von diesem war immer genug da und die Gäste schienen es nicht genügend zu schätzen. Als Lenning und Ellen den Frühstücksraum betraten, waren sie wohl bei den Letzten. An ihrem Tisch hatten die Kinder gerade angefangen, vom Büfett alles Mögliche zu holen und deshalb empfanden sie es lästig, als der Kommissar, der einen Tisch weiter saß, mit ihnen ein Gespräch beginnen wollte. Dennoch waren sie höflich und Lenning hörte gerade wie Carola dem Kommissar erklärte, dass ihr Vater gleich kommen müsse und sie die ihr gestellte Frage ansonsten nicht beantworten könnte.
„Guten Morgen, Commissario!“ rief Lenning, als er den Frühstücksraum betrat und der Commissario erhob sich sofort.
„Dottore, wissen Sie etwas über den Verbleib von Olschewski?“
Lenning zuckte ein Gedanke durch den Kopf. Olschewski musste sich wohl aus dem Staub gemacht haben, denn sonst hätte der Commissario diese Frage nicht gestellt und im Übrigen hätte Olschewski sicher noch am Frühstückstisch gesessen.
„Ist Herr Olschewski eigentlich schon abgereist, Franzl?“ fragte Lenning den Juniorchef, der gerade den Frühstücksraum betreten hatte.
„Jawohl, mein Herr, er hat bereits gestern Abend bezahlt und mich gebeten ihm für heute morgen um 6:00 Uhr ein Taxi zu bestellen.“
„Um 6:00 Uhr?“ Der Commissario staunte und Lenning fühlte so etwas wie Zorn in sich hochsteigen.
„Um 6:00 Uhr ist doch hier noch niemand auf.“
„Richtig!“ meinte Franzl.
„Aber warum ist dann Olschewski so früh im Taxi davongefahren?“ wollte der Commissario wissen. „Hat er irgendetwas dazu erklärt?“
„Nein“, erwiderte Franzl, „Er ist nicht um 6:00 Uhr mit dem Taxi fortgefahren.“
„Er ist nicht um 6:00 Uhr mit dem Taxi fortgefahren?“
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