„Der ist abgeblieben,“ meinte Franzl, „kurz bevor ein Schuss gefallen ist.“
„Ein Schuss gefallen?“ Lenning schaute Franzl fragend an und meinte dann: „Ja, ich glaube ich habe einen Schuss weiter unten gehört.“
„Wo der herkam, kann ich nicht sagen, aber es war nicht weit weg, von dort, wo ich Olschewski verloren haben muss. Wir sind über einen querverlaufenden Weg gefahren und mit dem Schlitten ganz schön durch die Luft geflogen, dabei hat es uns umgedreht.“
„Und Du hast nicht nach Olschewski gesucht?“ fragte Lenning ungläubig.
„Ich habe schon gesucht, aber ich konnte ihn nirgends finden. Er muss zu Fuß weitergegangen sein.“
Lenning überlegte, was nun zu tun sei. „Vielleicht ist er auch schon vorher abgeblieben und hat den Flug mit dem Schlitten gar nicht mehr mitgemacht.“
Franzl zuckte dabei unwillkürlich die Schultern, so als ob er seiner Gleichgültigkeit Ausdruck verleihen wollte.
„Du hast ihn nicht gemocht!“ meinte Lenning und schaute wiederum Franzl prüfend an.
Franzls Miene verzog sich überhaupt nicht. „Gemocht hin, gemocht her, ich hätte ihn heil unten ans Ziel gebracht, hätte er sich nicht davongemacht.“
„Du bist lustig, der Mann hat einen Anzug und Halbschuhe an und Du sagst, er hat sich hier im Schnee davongemacht. Normalerweise müssten wir sofort die Bergwacht alarmieren oder zumindest selbst noch einmal mit dem Lift hinauf fahren und die Strecke absuchen.“
Lenning war etwas ärgerlich, konnte jedoch nicht jetzt Rooy und Ruth allein zurücklassen, da die nunmehr soweit waren, dass sie wieder aufbrechen wollten.
„Bitte fahr´ uns jetzt nicht weg, sondern bleibe bei uns und das ganze nicht zu schnell“, bat Rooy. „Du weißt, ich bin herzkrank.“
Lenning musste unwillkürlich lachen. „Der, der so schnell gefahren ist, warst Du mit dem Schlitten, während ich mit den Skiern immer gebremst hab´, um Dich nicht zu verlieren. Ich dachte Du kannst Schlitten fahren?“
„Kann er auch,“ mischte sich nun Ruth ein, „aber er fährt nur am Deich hinunter und lässt dann auslaufen. In Holland sind keine so hohen Berg“… und sie lachte auch.
Offensichtlich hatten beide ihren Humor wiedergefunden und Lenning hörte noch Ruth Rooy verwarnen: „Heute Abend bist Du wieder eine richtige Schlafmütze, weil Du Dich den ganzen Tag so verausgabt hast...“
Lenning musste wieder lachen und Franzl, der das Ganze auch mitgehört hatte, meinte: „Die haben Probleme!“
Ellen und die Kinder waren zuerst fertig und nun ging es von der Zassler Hütte noch ein Stück steil bergab, wo dann die Waldabfahrt sehr flach auslaufen würde. Um dort noch genügend Geschwindigkeit zu haben, wartete Lenning, bis alle anderen vorausgefahren waren, denn er wollte im Schuss möglichst viel Geschwindigkeit gewinnen, so dass er dann auf der flachen Strecke alle überholen konnte. Lenning hatte am Waldrand zuletzt Ellen und die Kinder verschwinden sehen und war dann losgefahren. Dabei hatte er eine solche Geschwindigkeit, dass es durchaus reichen musste. Als er sich der Gruppe näherte, die erstaunlicherweise eng zusammenfuhr, krachte ein Schuss und Lenning sah, wie Franzls Schlitten einen Ruck machte. Holz splitterte und Franzl bremste unwillkürlich den Schlitten bis zum Stehen. Ellen und die Kinder hatten auch angehalten und im nächsten Augenblick war Lenning heran.
„Da hat jemand auf uns geschossen!“ rief Franzl und zeigte den zersplitterten Holm im vorderen Bereich seines Schlittens.
„Da hast Du noch mal Glück gehabt.“
„Meinst Du, das war Absicht?“
Lenning war auf diese Idee noch nicht gekommen, erschrak aber umso mehr, als er Ellens blasses Gesicht sah.
„Komm, wir wollen schnell hier weg!“ riet Ellen. „Bleib Du jetzt auf jeden Fall bei uns.“ Ellen war dem Weinen nahe.
Lenning bat Franzl, ein Auge mehr auf die Australier zu haben, da er instinktiv spürte, dass Ellen großen Wert darauf legte, nunmehr von Wolf mit den Kindern möglichst schnell zum Hotel gebracht zu werden. Die Australier würden den Schlitten bald ziehen müssen, denn an dieser Stelle war kaum Gefälle und Rooy und Ruth würden den Schlitten ohnehin hier nicht mehr richtig in Fahrt bringen können. Die Kinder schoben sich mit den Beinen rhythmisch an, so dass ihr Schlitten doch etwas Fahrt bekam, während Ellen und Wolf sich mit den Stöcken vorwärts arbeiteten. Schon nach kurzer Zeit fiel das Gelände ab zum Hotel und die Familie fuhr geradewegs an der Kirche vorbei zum Hoteleingang. Dort wurden schnell wie nie Skier und Skischuhe sowie Schlitten in den entsprechenden Skischuppen verbracht und danach begaben sich alle in die Zimmer. Gesprochen wurde bis dahin gar nichts. Schließlich, als alle schon die Skikleidung abgelegt hatten, meinte Ellen: „Du bringst uns noch mit Deinen komischen Freunden in Gefahr.“
Lenning, der immer noch an einen Querschläger bzw. an einen Zufall glaubte, trat diesem Vorwurf entgegen und wies Ellen darauf hin, dass kein Mensch annehmen könne, es sei absichtlich auf Franzls Schlitten geschossen worden.
„Wer hätte denn ein Interesse daran haben sollen, uns zu beschießen und wenn er ein Interesse dran gehabt hätte, dann wären sicher noch weitere Schüsse gefallen.“
Lenning baute sich vor Ellen auf „Und schließlich war unser Freund Olschewski gar nicht mehr dabei.“
„Vielleicht wurde deshalb nur der Holm des Schlittens getroffen. So zu sagen, als Warnung.“ Ellen war nicht unterzukriegen. „Mein Gefühl sagt mir, dass wir knapp an einer Katastrophe vorbeigegangen sind und Du weißt das genauso. Der Schuss war kein Zufall!“
Lenning gab jedoch noch nicht auf. „Es ist schon vorher einmal ein Schuss gefallen; hast Du das nicht gehört?“
Ellen überlegte, sie hatte den ersten Schuss, den Franzl erwähnt hatte, nicht gehört. „Der hat vielleicht auch Olschewski gegolten und der liegt vielleicht draußen im Schnee und ist schon starrgefroren.“ Ellen schauderte.
Lenning überlegte abermals, aber ihm fiel nichts mehr ein. „Wenn das so ist – wir müssten sowieso nach ihm suchen gehen. Ich geh mal hinunter zu Franzl und frag´ nach, was er in die Wege geleitet hat.“
Lenning begab sich hinunter zur Rezeption und traf dort Franzl, der schelmisch grinste.
„Geh´ mal an die Bar und schau´ mal, wer da sitzt.“ empfing er Lenning schon von weitem.
Lenning begab sich sofort durch die Glastür zur Bar und fand dort Olschewski, der sich gerade eine Havanna angezündet hatte.
„Hallo, Mister Lenning“, empfing er Wolf. „Darf ich Sie zu einer echten Romeo & Julietta einladen und vielleicht noch zu einem kleinen Glas Rotwein?“
Olschewski schien seinen merkwürdigen Akzent regelrecht zu pflegen. Lenning betrachtete ihn von oben bis unten. Er hatte offensichtlich einen anderen Anzug an und auch die Schuhe waren nicht die, mit denen er die Schlittenpartie unternommen hatte.
„Ihren Mantel habe ich dort zum Trocknen aufgehängt“, fuhr Olschewski fort und deutete nach dem offenen Kamin, in dem ein Bilderbuchfeuer flackerte und knisterte und seinen Schein auf den gegenüberliegenden Stuhl warf, über dem Lennings Feldjacke hing.
„Ist gleich trocken, alles nur halb so schlimm.“ Olschewski strahlte über das ganze Gesicht. „Kommen Sie, zünden Sie sich endlich die Havanna an, sonst reicht es nicht mehr bis zum Abendessen“, forderte er Lenning zur Eile auf.
„Wir haben Sie überall gesucht. Wie sind Sie denn hierher gekommen?“
„Wie ein alter Mann eben hierher kommt – zu Fuß!“ Dabei glitt er vom Barhocker und machte einige Schritte, die auf deutliche Plattfüße schließen ließen.
„Und so sind Sie den ganzen Weg, von der Zassler Hütte bis hierher zum Hotel gegangen?“
Olschewski nickte sehr ausgeprägt und hielt Lenning eine Romeo & Julietta hin. Lenning nahm sie, öffnete die Zellophanhülle und bedankte sich, roch daran und entzündete sie mit dem Gasfeuerzeug, das ihm Olschewski reichte.
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