„Ja, Sie wollen uns doch helfen, die Toten zu identifizieren!“
„Gibt es keine andere Möglichkeit?“ fragte Lenning und bangte um den Frieden, denn Ellen machte ein sehr kritisches Gesicht und hatte gerade angefangen die Reste auf dem Tisch aufzubauen.
„Liebling, wir haben noch nicht einmal Kaffee!“ Ellen blickte Lenning mit finsterer Miene an.
„Siehst Du, umso schneller geht es und der Commissario braucht nicht lange zu warten. Heute werden wir das Frühstück für morgen einkaufen und morgen können wir in aller Ruhe frühstücken.“
Dem Commissario war es recht. Die Gruppe begab sich schon nach 20 Minuten zum Fahrzeug, das total vereist war, doch nach kurzer Kratzarbeit war es wieder fahrbereit und alle fuhren in einem Auto die Gebirgsstraße nach Sand hinab. Der Wagen war heute relativ voll besetzt. Dax wollte zunächst nicht akzeptieren, dass der Commissario sich zu ihm setzten wollte und so nahm dieser auf dem Beifahrersitz Platz.
Im Auto “dirigierte“ der Commissario Lenning zu einem Gebäude, in dem die Gerichtsmedizin untergebracht war. Der Commissario war hier bekannt und so gab es keine Probleme, ohne jede Wartezeit sofort vorgelassen zu werden. Während Ellen und die Mädchen im Fahrzeug sitzen geblieben waren, sollte der “Abstecher“ zur Gerichtsmedizin nur wenige Minuten dauern. Der diensthabende Arzt deutete auf eine Tür und meinte auf italienisch, „der Commissario und Lenning sollten vorangehen.“ Die Tür öffnete sich zu der Treppe, die direkt in den Raum führte, in dem sich die Kühlkammern befanden, wo die Leichen aufbewahrt wurden. Der diensthabende Arzt zog zunächst rechts außen die untere und die daneben liegende Schublade auf und zeigte die beiden fast vollständig entkleideten Leichen. Anders als in der BRD waren in diesem Fall die Leichen nicht zugedeckt. Lenning schauderte etwas, als er in die doch erheblich entstellten Gesichter blickte. Der Frau war der halbe Hinterkopf abgerissen worden und die blutverschmierten Haare klebten auf dem Untergrund. Dem Mann war der Schusskanal doch nicht gerade durch den Kopf gegangen, sondern seitlich hinter dem linken Ohr ausgetreten, was eine sehr unschöne Blutverkrustung deutlich zeigte.
„Dottore, ist das der Ihnen bekannte Herr Norbert Jeschke?“ wollte der Commissario wissen.
Lenning schüttelte den Kopf. „Zeigen Sie mir doch bitte mal seinen Pass.“
„Oh!“ Der Commissario lächelte. „Sie haben wirklich das Zeug zu einem Kriminalbeamten. Den Pass kann ich Ihnen erst in Bozen zeigen, denn er befindet sich in den Unterlagen, die in Rain sichergestellt worden sind. Haben Sie eine Vermutung?“ forschte der Commissario. „Denn ohne Grund werden Sie ja nicht nach den Pässen dieser Leute fragen.“
Lenning schüttelte den Kopf. „Die hier sind mir jedenfalls nicht bekannt.“
„Können Sie sich nicht täuschen?“ wollte der Commissario wissen. „Immerhin sind sie durch die Einschüsse nicht unerheblich entstellt.“
„Commissario!“
Lenning wandte sich zum Gehen, der Commissario folgte und auf der Fahrt von Bruneck nach Bozen wurde sehr wenig gesprochen. Lediglich Ellen hatte ab und zu eine Frage, während die Kinder die Hörer ihrer Musikabspielgeräte in den Ohren hatten.
In Bozen angekommen, parkte Lenning das Fahrzeug direkt auf dem Dienstwagenparkplatz des Polizeipräsidiums. Der Commissario und Lenning stiegen aus, während die anderen im Fahrzeug warteten. Der Commissario hatte gänzlich die Sprache verloren. Lenning knüpfte an die letzten Ereignisse an.
„Commissario, wenn dies nicht der Jeschke ist, den ich kenne, kann es doch ein anderer Mann gleichen Namens sein.“
Der Commissario gab keine Antwort. Während er eintrat, grüßte er kurz, lief zu einem Aktenschrank, griff zielsicher nach einer der dort abhängenden Akten und kam zu Lenning zurück.
„Hier haben Sie die Ausweise, Dottore.“
Lenning warf einen Blick darauf. Die Bilder zeigten eindeutig die Getöteten.
Lenning gab sie dem Commissario zurück, der ihn fragend anblickte.
„Was ich vorhin schon gesagt habe, ich weiß nicht, wie viele Personen es gleichen Namens geben kann. Meinen Namen zum Beispiel führen eine Vielzahl von Personen, die ich überhaupt nicht kenne. Sie brauchen nur in ein elektronisches Telefonbuch zu sehen.“
Der Commissario unterbrach ihn. „Und ich habe in Bad Nauheim nur diesen einen Jeschke gefunden.“
Lenning überlegte. „Wenn dies Jeschke sein sollte, an seiner Stelle jedoch eine andere Person mit seinem Namen eingetragen wurde, könnte es darauf hindeuten, dass ein Identitätswechsel beabsichtigt war.“
„Dottore,“ wandte der Commissario ein, „sind Sie sich denn sicher, den richtigen Jeschke kennen gelernt zu haben?“
Lenning überlegte kurz. „Nun, ich habe einen Mann diesen Namens über mindestens zwei Jahre in unregelmäßigen Abständen gesehen. Er wurde mir als Norbert Jeschke vorgestellt und hat für mich diese Identität solange bewahrt, bis ich ihn aus den Augen verloren habe. Seine Identität habe ich jedoch nicht überprüft und habe dazu auch gar keinen Anlass gehabt.“
„Was haben Sie gesagt, Dottore? Jeschke war Finanzmakler?“
Lenning bejahte nickend. „Schauen Sie, unsere Überprüfung auf dem Dienstweg hat ergeben, dass die hessische Polizei davon ausging, dass dieser Jeschke Finanzmakler war, jedenfalls hatte er ein solches Gewerbe angemeldet und das ist bei Ihnen wohl strenger, als bei uns.“
Lenning nickte. „Commissario, ich muss jetzt mit den anderen nach Nals fahren und wir sehen uns wieder auf dem Rückweg.“
Der Commissario nickte. „Sie haben ja Urlaub, Dottore. Aber überlegen Sie sich noch einmal, ob Ihnen etwas einfällt, die Identität Jeschkes zu fixieren!“
„Auf Widersehen, Commissario!“
„Arrivederci, Dottore!“
Lenning begab sich schnellen Schrittes zu den Wartenden und sie verließen sofort Bozen in Richtung Meran. Ellen konnte offensichtlich ihre Neugier nicht mehr zügeln.
„Was ist mit den Leichen? Sind es die, von denen Du gedacht hast, sie zu kennen, oder war es wieder einmal ein Irrtum?“
Lenning schmunzelte. „Ihr traut mir alle nur Irrtümer zu“, meinte er. „Dieser Jeschke hier ist auf keinen Fall der, den ich als Jeschke kennengelernt habe. Was jedoch feststeht, ist, – und darauf hat mich der Commissario bereits hingewiesen - dass ich niemals Jeschkes Ausweis kontrolliert habe oder mich sonst irgendwie festlegen könnte, dass es Jeschke war, mit dem ich unter diesem Namen über Jahre bekannt war.“
„Vergiss´ die Sache, vielleicht bekommt der Commissario Neuigkeiten, bis wir ihn wieder abholen! Wolf, Du wolltest Urlaub machen und steckst mitten in einem Fall.“ klagte sie.
Lenning überhörte dies. Beim Weinkauf war er mit den Gedanken abwesend, so dass tatsächlich eine Kiste Wein zu wenig eingepackt wurde, obwohl sie schon bezahlt war.
Das Mittagessen wurde mehr oder weniger schweigend eingenommen. Lenning dachte über die Toten nach. Die Einschusswunden gaben ihm zu denken. Lenning wusste, dass diese Art der Tötung eines Menschen nicht die übliche war. Im Fall eines einfachen Mordes oder einer Affekttat hätte der Schütze möglicherweise mehrere Schüsse auf sein Opfer abgegeben, nicht jedoch gerade auf die Stirn gezielt. Für ihn stand fest: Hier handelte es sich um die Tat von Profis. Während der übliche Profi bei der Begehungsweise danach trachtet, Spuren eher zu verwischen, als zu legen, deutete hier alles darauf hin, dass eine regelrechte Exekution ausgeführt worden war.
Lenning dachte unwillkürlich an Geheimdienstkreise. In der Tat hatte Jeschke, jedenfalls der Jeschke, den Lenning kannte, mit diesen Kreisen zu tun. Er war es gewesen, der vor Jahren eingeschaltet worden war, Vermögensmassen aus dem nahen Osten zu verschieben. Damals hatte man sich in Genf getroffen. Anwesend war eine buntzusammengewürfelte Gruppe, bestehend aus mehreren Palästinensern, zwei Syrern, einem Libanesen und einem Iraker. Lenning war als Anwalt eingeschaltet worden, um treuhänderisch den Vermögenstransfer in die Schweiz zu bewerkstelligen. Jeschke sollte die Verbindung zu mehreren Banken herstellen. Das Geschäft war seinerzeit in letzter Sekunde geplatzt und Lenning hatte noch nicht einmal die Anzahlung auf sein Honorar erhalten. Dies war jedoch nicht Jeschkes Schuld gewesen, sondern ein für Lenning nicht ganz durchsichtiger Araber namens Al Amer hatte in letzter Sekunde den Transfer blockiert, ohne dass Gründe hierfür direkt ersichtlich gewesen wären. Später hatte Lenning von einem dort nicht anwesenden Vertrauten erfahren, dass der Grund dafür das mangelnde Vertrauen in Jeschke gewesen sei. Also versah Lenning den ihm bekannten Jeschke in Gedanken mit einem Fragezeichen.
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