Michael war sauer.
„Ich versteh dich ja. Aber so ist sie nun mal. Sie setzt einfach ihren Willen durch. Du kennst sie doch.“
„Das ist es ja!“
„Und was machen wir jetzt?“
„Na, wir werden natürlich zu ihr gehen, ist doch Ehrensache!“
„Na, dann mal los.“
„Moment“, bremste Michael. „Wir müssen aber aufpassen. Von hier bis zur Hausecke kann man uns vom Wohnwagen aus sehen!“
„Aber da ist doch alles ruhig...“
„Schon. Aber du weißt ja nicht, ob zufällig einer durchs Fenster späht. Könnte doch sein...“
„Und? Wie machen wir es dann?“
„Wir rennen ganz schnell, aber nacheinander. Du zuerst!“
„Ich?“
„Na klar, oder hast du Schiss?“
Kai schüttelte den Kopf, doch ganz wohl war ihm nicht in seiner Haut. Dennoch machte er sich bereit. Eine Zeitlang lag er sprungfertig am Rand des Gebüschs und beobachtete den Wohnwagen. Schließlich spurtete er los. Michael sah ihm nach und wartete dann noch ein Weilchen. Nichts geschah. Kai stand im Schatten der Fabrikhalle und schnaufte mächtig. Gleich darauf rannte Michael los. Lachend kam er neben seinem Freund an.
„Klasse, was?“
Er hob das Funkgerät an den Mund und sprach hinein:
„Brauner Bär an Schwarzer Adler! Kommen!“
„Schwarzer Adler hier!“
„Befinden uns jetzt auf der Rückseite der Halle. Gibt’s was Neues?“
„Gerade fährt ein Wagen auf den Hof. Beeilt euch!“
„Jetzt aber Tempo! Sonst erlebt Sophie das ganze Abenteuer alleine!“
Sie eilten entlang der Rückwand der Halle, bis sie an eine Stelle kamen, wo man hinter einer Öffnung ein eingestürztes Dach erkennen konnte.
„Das muss es sein...“
„Und wie sollen wir dahin kommen?“
Unmittelbar an der Hauswand verlief ein tiefer Schacht, der dazu diente, den Kellerfenstern Tageslicht zu spenden. Für den Geschmack der Kinder war er etwas zu breit, um einfach hinüber zu steigen. Noch dazu war alles baufällig. Doch dann entdeckte Kai eine Quermauer in dem Schacht, die ziemlich nahe an dem Einstieg verlief.
„Da können wir hinüber balancieren...“
„Wenn du meinst...“
Dieses Mal war es Michael, der zögerte.
„Na gut. Ich will kein Spielverderber sein. Ich gehe als Erster!“
„Pass auf. Soll ich nicht das Walkie-Talkie halten?“
„Geht schon...“
Kaum hatte er es ausgesprochen, war er auch schon an dem Einstieg angelangt, einer ehemaligen Türöffnung, die durch herausgebrochenes Mauerwerk noch etwas vergrößert war. Michael schlüpfte hinein und wartete drinnen auf Kai, der sich anschickte, flugs zu folgen.
„So, und wo ist nun diese Treppe, von der Sophie gesprochen hat?“
„Keine Ahnung. Aber aus dem Raum führt eh nur eine Tür.“
„Ja, aber da müssen wir unter dem durchhängenden Dach durch...“
Misstrauisch beäugte Kai das halb in den Raum hängende Dach. Gesteinsbrocken hingen an verrosteten und verbogenen Eisenstangen. Schwarze Dachpappe zeigte Risse.
„Ach was. Das ist bestimmt schon ewig so. Warum soll das noch weiter runter krachen? Ausgerechnet dann, wenn wir da sind...“
Michael bückte sich unter dem Dach durch und kam so zu einer Türöffnung, die ihn in eine weitläufige Halle führte. Sie war leer, aber überall von Schutt übersät. Gleich zu seiner Rechten entdeckte er die Treppe, die auf das Dach führte.
„Wo bleibst du denn?“
„Komm ja schon...“
Kai zögerte noch immer. Doch dann fasste er sich ein Herz und folgte seinem Freund, der sich schon anschickte, die Treppe zu erklimmen. Sie mündete in ein kleines Häuschen, das auf dem Dach stand. Michael blieb in der Türöffnung stehen und sah sich um. Zu seiner Linken verlief eine Begrenzungsmauer, die vielleicht einen Meter hoch war. Dahinter musste der Hof mit dem Wohnwagen liegen. Dieser war von Michaels Standpunkt aus nicht zu sehen, doch erkannte er das Eingangstor des Hofes, das zur Straße führte.
„Was ist?“ Worauf wartest du?“, fragte Kai, der von hinten herankam.
„Gleich. Ich frag mich nur, wo Sophie ist...“
Doch dann entdeckte er seine Schwester, die hinter einer alten Kiste direkt am Geländer des Daches kauerte und ab und zu einen vorsichtigen Blick hinüber warf. Als sie Michael sah, winkte sie ihn heran. Geduckt lief Michael hinüber, dicht gefolgt von Kai. Bei Sophie angekommen, ließen sich die beiden außer Atem auf dem Boden nieder.
„Und?“, fragte Michael. „Was ist passiert?“
„Da ist ein Auto gekommen, so ein Sportwagen. Ein Kerl ist ausgestiegen und zu dem Wohnwagen gegangen. Er hat geklopft. Ein Mann kam heraus und ging mit ihm zu dem Wagen.“
„Und? Konntest du hören, worüber sie geredet haben?“
„Nicht wirklich, dafür ist es zu weit weg. Aber nach einer Weile ist der Mann, der in dem Sportwagen kam, dann zu Fuß weggegangen.“
„Und dann?“
„Nichts!“
„Nichts?“
„Nein, gar nichts.“
„Meint ihr, der Wagen ist geklaut?“, fragte Kai nach einer Weile.
„Was denn sonst?“, gab Michael im Brustton der Überzeugung zurück. „Das ist doch klar wie Kloßbrühe! Die nutzen die verlassene Fabrik, um in aller Ruhe ihren dunklen Geschäften nachzugehen.“
„Und was sagst du?“, wandte sich Kai an Sophie.
„Keine Ahnung. Sieht zumindest sehr verdächtig aus.“
„Und was machen wir jetzt?“
„Wir können natürlich hier bleiben und weiter beobachten. Aber ich krieg langsam Hunger...“
Sophie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Jetzt ging es schon auf Mittag zu.
„Mensch, das Essen! Wie spät ist es denn?“
Michael zuckte zusammen, als ihm einfiel, dass ihre Eltern sie ja zum Mittagessen erwarteten.
„Kurz vor halb eins“, antwortete Kai nach einem Blick auf seine Armbanduhr.
„Dann wird’s höchste Zeit, dass wir heimgehen. Wir können ja am Nachmittag zurückkommen.“
Hunderttausend Höllenhunde
Die Eltern saßen schon am Tisch auf der Terrasse und blickten die Kinder vorwurfsvoll an, als diese atemlos angerannt kamen. Zorro, der im Schatten gedöst hatte, sprang auf, und hüpfte freudig um die Kinder herum.
„Wir hatten doch halb eins ausgemacht“, begann Mutter zu schimpfen. „Das Essen wird doch kalt!“
„Tut uns Leid...“
„Sind eure Spiele so aufregend, dass ihr darüber ganz vergesst, auf die Uhr zu sehen?“
Vater goss sich gerade ein Weißbier ein und zwinkerte Sophie, die neben ihm Platz nahm, nachsichtig zu.
„Ich hol jetzt die Nudeln. Michael, hilfst du mir mal!“
Während Michael seiner Mutter ins Haus folgte, setzte sich Kai an den gedeckten Tisch. Er war oft zu Gast in der Gärtnerei und es war selbstverständlich, dass auch er an den Mahlzeiten teilnahm.
„Was gibt es denn?“, fragte Sophie, als ihre Mutter zurückkam.
„Was ganz Leckeres!“
„Was denn?“
„Spaghetti mit Meeresfrüchten!“
„Igitt!“, entfuhr es Michael und Sophie konterte:
„Du musst sie ja nicht essen!“
„Jetzt probiert doch erst mal“, versuchte Mutter zu schlichten, während sie das Essen auf die Teller verteilte. Sophie machte sich mit Heißhunger darüber her, während Michael die Krabben und das andere Meeresgetier aus den Nudeln pulte und an den Tellerrand legte.
„Du kannst sie mir geben“, wandte sich Kai an den Freund. „Mir schmeckt’s.“
„Das ist schön. Gute Esser sind uns immer willkommen!“
Gerade wollte sich Mutter den ersten Bissen in den Mund stecken, da klingelte das Telefon.
„Ich geh schon“, bot Herr Wagner an, doch seine Frau war schon aufgestanden.
„Lass nur“, sagte sie und verschwand im Haus. Es dauerte eine Weile, dann kam sie zurück.
„Es waren Kleines. Kai, es geht alles klar. Du darfst mitkommen nach Brüssel.“
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