Als ich das nächste Mal hochsehe, steht Mara lächelnd neben mir. „Na, da hat sich dein Wunsch ja doch erfüllt!“ Ich freue mich so sehr. Da wir aber wenig Zeit für Smalltalk haben, informiere ich sie schnell über den Stand der Dinge. Meine Stimme überschlägt sich förmlich, weil ich ahne, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt, bis mich die nächste Schmerzwelle überrollt. „Schwester Beate hat schon die PDA vorbereitet, die musst du mir SOFORT setzen.“ Aber Mara legt mir beruhigend die Hand auf den Arm. „Ich mache mir erst mal selbst ein Bild der Lage und dann sehen wir weiter, okay?“ Außerdem kann sie sich einen Kommentar an Paul – ach ja, wo ist der eigentlich? – nicht verkneifen. „Am meisten liebe ich die Väter, die mit der Zeitschrift in der Hand warten, bis alles vorbei ist!“ Er sitzt tatsächlich auf dem Stuhl neben der Türe und hat die Autobild in der Hand. Mir schießen gerade tausend Gedanken durch den Kopf.
Irgendwie schafft es Mara, dass ich etwas ruhiger werde, und nachdem sie mich untersucht hat, sagt sie mit warmer Stimme, immer noch ein Lächeln im Gesicht: „Ich mache dir einen anderen Vorschlag. Du presst jetzt zwei Mal, und dann ist dein Kind da.“
Und sie hat wirklich Recht. Noch ein paar Mal überrollt mich der Schmerz und wie in Trance spüre ich, wie sie keine fünf Minuten später ein warmes, weiches, quiekendes Bündel Mensch auf meine Brust legt. Ich bin überwältigt vor lauter Glück und schließe sanft das Tuch um den kleinen Körper, nehme vorsichtig die kleine Hand in meine, und schmiege meine Wange an das Köpfchen mit den flaumigen, dunklen Haaren. Der Duft dieses kleinen Menschenkindes ist einzigartig und so liege ich eine ganze Weile und genieße einfach nur den Augenblick, fest entschlossen, diesen kleinen Menschen für den Rest seines Lebens zu beschützen. Nicht ein einziger Moment in meinem Leben ist vergleichbar mit diesem einzigartigen Wunder. Das ist es, was meinem Leben das größte Glück und die größte Erfüllung gibt.
Auf glückliche Kinder, einen vollen Kühlschrank und guten Sex
Zehn Jahre später…
„Auf ein schönes Zuhause, glückliche Kinder, einen vollen Kühlschrank und guten Sex!“ Mit diesen Worten poltert meine beste Freundin Lissy lautstark und ausgelassen in meine Einweihungsparty. Ich freue mich riesig, als meine älteste Freundin mich stürmisch in den Arm nimmt und mir die wunderschönen Wildrosen aus ihrem Garten beinahe um die Ohren haut. Nicht umsonst hat sie den Spit znamen Die wilde Lissy ! Wir beide sind so verschieden und manchmal beneide ich sie um ihre unbeschwerte Art zu leben, das muss ich schon zugeben.
„Ja, das hört sich gut an, einen guten Teil davon haben wir ja jetzt schon, an dem Rest arbeiten wir noch“, antworte ich fröhlich. Die letzten Wochen vor dem Umzug in unser neues Zuhause waren wirklich sehr anstrengend und so freue ich mich, dass wir heute so richtig genießen können, diesen Stress hinter uns gebracht zu haben.
Genau in diesem Augenblick kommt meine Schwester Maike mit drei Sektgläsern in der Hand auf uns zu. „So, dann lasst uns mal anstoßen auf das neue Leben! Ich hab Dir Deinen Lieblingssekt mitgebracht“, lächelt sie mich an. „Jetzt sag nicht, dieses klebrig süße Zeug?“, fragt Lissy leicht angewidert nach. „Na klar“, antwortet Maike, „heute ist Annies Tag und da muss es einfach Asti sein. Da musst Du jetzt durch.“ „Oh Mann, nun gut, ein Glas werde ich verkraften, aber dann will ich etwas Richtiges trinken!“ So stoßen wir an und ich genieße den köstlichen, süßen Tropfen, der meine Kehle hinunter rinnt und mich an schöne Zeiten erinnert. „Ahh, tut das gut!“
„Sag mal Annie, wie bist Du denn überhaupt auf diesen tollen Hof gekommen?“, fragt mein Schwager Thomas, der mit einem kühlen Bier in der Hand um die Ecke kommt. „So viel Glück ist doch schon unnormal!“ Meine Gedanken wandern zurück an den Tag, an dem Frau Burger einen Termin in der Anwaltskanzlei hatte, in der ich arbeite. Ich war ganz überrascht, als ich ihr die Türe öffnete, denn selten kommt jemand mit so einer positiven Stimmung in die Kanzlei. Meist sind die Betroffenen genau das: Betroffen von der Situation, in der sie sich plötzlich befinden. Beim Schwerpunkt Familienrecht sind dies meist sehr unschöne Geschichten über Scheidung oder Sorgerecht bis hin zur häuslichen Gewalt.
Aber Lotte Burger war da anders. Sie wollte sich mit ihren 72 Jahren im Guten von ihrem Mann trennen und einfach nur alles geregelt haben, damit dieser nicht in den Besitz ihres geliebten Hofes kommen konnte. Wir kamen ein wenig ins Gespräch, und Frau Burger erzählte, dass sie jemanden suchte, der einen kleinen Teil ihres schönen Hofes mieten wolle – am liebsten hätte sie eine Familie mit Kindern im Haus. Ich erzählte ihr davon, dass ich mir mit meinen Jungs gerade ein neues Zuhause suchen muss. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als sie mich einlud, noch an diesem Abend zu ihr zu kommen und sich mal zu unterhalten.
Doch dann hörte ich Frau Burger sagen: „Es gibt aber eine Bedingung.“ Mein Magen zog sich schlagartig zusammen und die Gedanken überschlugen sich. Ob sie erwartete, dass ich ihr im Haushalt half? Ich war mit der ganzen Situation seit Pauls Auszug zu Hause sowieso mit meinen Kräften am Rande der Belastbarkeit. Benny brauchte mich mehr denn je, weil er in der Schule noch zappeliger und unkonzentrierter war als ohnehin schon. Und der kleine Tom mit seinen 5 Jahren ist seit der Trennung auch noch anhänglicher geworden. Außerdem muss ich mir einen zweiten Job suchen, um das alles finanziell stemmen zu können. Innerlich verabschiedete ich mich gerade von meiner neuen Wohnung.
Frau Burger riss mich aus meinen Gedanken: „Meine Bedingung ist, dass jede der drei Einheiten, aus der mein Hof besteht, ein eigenständiger Bereich ist. Ich habe keine Lust, dass ständig jemand vor der Türe steht, um mich zu bemuttern. Das Herz des Hofes ist der große Innenhof mit dem alten Kastanienbaum, und wenn man Gesellschaft möchte, dann trifft man sich einfach dort. Jeder der Lust hat. Ansonsten möchte ich meine Ruhe und mein eigenes Leben haben. Das ist meine Bedingung!“
Ich wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen. Das berufliche Umfeld jedoch befahl Kontenance und so musste ich mich bis zum Abend gedulden. Ich glaube, ich habe gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd. „Wann könnten Sie denn überhaupt einziehen?“, wollte Frau Burger wissen. Bei dem Gedanken daran, unser ehemals gemeinsames Haus auszuräumen und den neuen Besitzern den Schlüssel zu übergeben, wurde mir ganz flau im Magen. „Ende Juni muss ich den Schlüssel abgeben“, antwortete ich knapp. „Na das passt doch prima. Die Zimmer stehen leer und könnten sofort bezogen werden. Dann kommen Sie doch einfach heute um 19.00 Uhr vorbei und wir besprechen alles Nötige.“
Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, fügte Frau Burger mit sanfter Stimme hinzu: „Und Kindchen, zu Hause ist immer dort, wo Dein Herz und Deine Lieben sind. Das kann jeder Ort auf der Welt sein.“ Wie Recht sie doch hatte. So hatte ich das noch nicht gesehen. Bisher lag nur das schlechte Gewissen wie ein Fels auf meinem Herzen, weil ich den Kindern ihr Zuhause nicht erhalten konnte.
„Hallo, Erde an Annie!“, ruft Thomas, weil er immer noch auf eine Antwort wartet. „Ähm ja, also Frau Burger war Mandantin in unserer Kanzlei und suchte zufällig gerade jemanden, der den Teil ihres Hofes mieten wollte. Ich bin dann mit den Kindern hergekommen und wir waren gleich alle so begeistert, dass wir noch am selben Abend mit Oma Lotte den Mietvertrag unterschrieben haben.“ „Oma Lotte?“, fragt Thomas. „Ja, die Kinder haben sie gleich ins Herz geschlossen, genauso wie ihren Hund Brutus. Das passt einfach alles irgendwie. Und jetzt sind wir zu Hause! Angekommen.“
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