‚Warum fällt mir das gerade jetzt ein, ich will mich doch nicht vom Leben verabschieden. Ob ich mal rausschaue in den Flur? Der Lichtschalter ist direkt neben meiner Zimmertür, da riskier ich nicht viel.’
Lieber hätte sie mit Maa oder Susi am Ohr nachschauen gegangen. Aber es half nichts, sie war nun mal allein. Also nahm sie das Handy, atmete tief durch, ging zur Tür und drehte leise den Schlüssel.
‚Keine Reaktion, na bitte, mach dir nicht ins Hemd.’
Langsam öffnete sie die Tür.
‚Mensch komm runter, da ist bestimmt nur etwas hingefallen, vielleicht eine Deckenlampe?’
Mit dem Telefon in der Hand tastete sie nach dem Schalter, doch gerade als sie den gedrückt hatte, hörte sie aus dem Waschraum gegenüber ein Stöhnen. Anna Mona kreischte auf und ließ das Handy fallen. Sie fuhr zurück, knallte die Tür von innen zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und atmete tief aus auf den Schreck. Sie zitterte vor Angst, heftig klopfte ihr Herz. Ihre rechte Ferse hüpfte auf und nieder.
‚Was für ein Schocker, ich mach mir gleich in die Hose! Ob das ein Tier ist? Eine Ratte klingt bestimmt anders. Vielleicht ein Dachs, die sollen hier in der Siedlung schon gesehen worden sein? Nein, nein, das klang eher, als ob sich jemand verletzt hat. Aber wie denn, in dem kleinen Kabuff mit Waschmaschine, Besen und Staubsauger? Wie soll einer da reinkommen? Der Raum hat kein Fenster, etwa durchs Dach? Dafür war der Krach wieder zu leise und berstende Ziegel klingen anders. Hauptsache, da kommt jetzt keiner raus, mitten in der Nacht.’
Angestrengt dachte sie nach, doch ihr kam keine Idee.
‚Verdammte Scheiße, was mach ich bloß? Ich krieg Panik, ich muss was tun!’
Da fiel ihr Sportlehrer Bommer ein, der den Selbstverteidigungskurs für Mädchen geleitet hatte. Als sie an die Reihe kam, sich mit einem Tritt gegen seinen fingierten Angriff zu wehren, hatte die Schulsekretärin von der Eingangstür der Turnhalle gerufen. Er war einen Moment abgelenkt und Anna Mona hatte ihn genau dort erwischt, wo auch ältere Jungs keinen Spaß verstehen. Ihr Versuch, danach Maa auch noch eine Mitgliedschaft in einem Kampfsportklub abzuringen, war jedoch gescheitert.
„Wenn du mit einem Notenschnitt von 1,9 nach Hause kommst, können wir darüber reden“, hatte ihre Mutter sie ausgebremst. Allerdings konnte auch die sich das Lachen nicht verkneifen, als sie von der Reaktion des Lehrers hörte. Zusammengekrümmt hatte er Anna Mona angestarrt und nach Fassung gerungen. Dann unter dem Kichern der gesamten Mädchengruppe etwas von niedriger Hemmschwelle für körperliche Aktion gestammelt.
‚Na also, dann werde ich doch wohl noch ... Aber ich brauche etwas, mit dem ich mich wehren kann. In die Küche komme ich nicht, also kein Messer, keine Teflonpfanne. Na klar, Maas Schirm im Flur mit der langen Spitze, mit dem kann ich in dem kleinen Raum jeden Eindringling auf Abstand halten. Also los!’
Beinahe wäre sie im Flur auf ihr Handy getreten, sie hob es auf und steckte es ein. Schon stand Anna Mona mit dem Schirm in der Hand vor der Tür, hinter der es schon wieder stöhnte. Sie zitterte, aber das zog sie jetzt durch.
‚Ein Glück, dass der Lichtschalter für den Raum hier draußen ist. Soll ich die Tür vorsichtig öffnen, oder mit einem Ruck aufmachen?’
Ohne weiter nachzudenken, knipste sie das Licht an und versuchte die Tür aufzustoßen, aber sie kam nicht weit. Etwas lag im Weg und rief empört „Auah“. Eine junge männliche Stimme, aber wer? Ein Paar Stiefel, weiß und glänzend waren zu sehen, darüber der Ansatz einer Blue Jeans. Die Füße wurden angezogen und jemand begann, sich am Türgriff auf der anderen Seite hochzuziehen.
‚Alles nur das nicht!’, schoss es ihr durch den Kopf. Sie fasste den Schirm mit beiden Händen.
„Wer ist denn da?“
Erschrocken vom eigenen Gekrächze, das bestimmt keinen Angreifer abschreckte, schob sie mit tiefer Stimme nach, was sie aus Fernsehkrimis kannte.
„Kommen Sie sofort mit erhobenen Händen raus! Jeder Widerstand ist zwecklos!“
So kam es dann auch und schon bald hörte sie die unglaublichste Geschichte ihres Lebens.
Reichlich zerknittert war der Eindringling aus der Kammer gekommen. An seiner knallroten Lederjacke waren zwei Knöpfe fast abgerissen. Der hohe Kragen und die goldenen Schulterstücke erinnerten an eine Uniform. Die Blue Jeans steckte mit einem Bein im Stiefel, das andere war herausgerutscht, die Haare waren zerzaust und seine Stirn zierte eine blaurote Beule. Trotzdem sah er verdammt gut aus. Der blonde Haarschnitt über blauen Augen war echt stylisch. Den müsste sie Susi vorstellen, nur die dicke Rolex am Handgelenk passte nicht zu ihm. Die hielt er sich an die Stirn, als wollte er die Schwellung kühlen.
16 oder 17 Jahre gab sie ihm und da sie ihn nicht in ihr Zimmer lassen wollte, dirigierte sie ihn mit der Schirmspitze auf seiner Brust ins Wohnzimmer. Wortlos ließ er das mit sich machen, nahm die Hände hoch und humpelte rückwärts. Schon bereute sie, die Polizei nicht gerufen zu haben, da kam ihr ein Gedanke.
‚Mensch, ist der etwa die Erfüllung meines ersten Wunsches? Ach was.’
Erstens hatte sie ja noch gar nicht richtig gewünscht und zweitens funktionierte das sowieso nicht, sondern war nur ein netter Brauch. Oder etwa nicht? Mit einer Hand griff sie im Vorbeigehen einen Stuhl vom Esstisch und zwang den Fremden Richtung Sofa.
„Setz dich, Freundchen.“
Er gehorchte, sie setzte sich mit Abstand vor ihm auf den Stuhl. Wie eine Speerspitze zeigte der Schirm auf ihn.
„Komm mir bloß nicht zu nahe.“
Sie klemmte den Schirm unter den Arm und holte das Handy aus der Hosentasche.
„Ich ruf jetzt die Polizei. Bis die hier ist, kannst du mir ja erzählen, was du bei uns gesucht hast.“
Sie drehte das Handy in der Hand richtig herum.
„Bitte hab keine Angst“, sagte er beschwichtigend. „Wir hoffen, du verzeihst, dass wir hier so reinplatzen, aber wir suchen ein bestimmtes Mädchen.“
Ihr Oberkörper schoss nach vorne.
„Wir?“
Gerade noch hatte sie Oberwasser, doch nun kam wieder Panik in ihr hoch. Sie schaute Richtung Flur und ihr Daumen rutschte von der Tastatur.
„Ist da etwa noch einer?“
Er hob abwehrend die Hände.
„Nein, nein, das ist ein Missverständnis. Von uns, also von mir, spricht man im Plurals Majestatis, der Anrede für Herrscher. Das gilt auch wenn wir, also wenn ich von uns selbst, also von mir sprechen. Dabei meine ich, also ich meine uns, immer uns, weil wir, sprich ich, ja immer auch für unsere, also meine Untertanen sprechen.“
‚Was für ein Gestammel’, dachte sie.
Ihr verständnisloser Blick ließ ihn aufstehen.
„Verzeihung, ich habe versäumt uns vorzustellen und dich standesgemäß zu begrüßen.“
Er straffte sich und zog seine Lederjacke stramm.
‚Was soll das denn werden?’, dachte sie.
„Bleib gefälligst sitzen!“, wollte sie noch rufen.
Doch er kam bereits auf sie zu und überrumpelte sie völlig. Ihr Handy polterte auf den Parkettboden als sie versuchte, den Schirm unter dem Arm hervorzuziehen. Aber ihre einzige Waffe rutschte herunter, sofort stand der fremde Mann mit dem Fuß auf der Schirmspitze. Hilflos schaute sie hinauf in sein Gesicht, tastete fahrig nach dem Handy.
‚Warum bin ich blöde Kuh auch so vertrauensselig?“, war ihr letzter Gedanke.
Sie öffnete den Mund zum Schrei, aber sie konnte nicht. Denn sie musste mit Grauen ansehen, wie seine geöffneten Hände auf ihren Hals zukamen. Reflexartig kippte sie mit dem Stuhl nach hinten, sie sah noch sein Grinsen und seine tadellosen Zähne. Hart schlug ihr Kopf auf dem Boden auf.
Als sie wieder zu sich kam, kniete er neben ihr. Wie durch einen Schleier sah sie ihn, nur langsam wurde das Bild klarer. Sofort wollte sie auf ihn losgehen, aber eine Hand signalisierte ihr ‚Stop’! Ihr Kopf fiel zurück, so hatte sie keine Chance. Er entfernte sich und sie hörte, wie er sich auf das Sofa setzte. Was war mit ihren Klamotten? Sie befühlte sich unauffällig.
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