‚Genau! Das wünsch ich mir, neue Stadtrekorde in Kugelstoß und Speerwurf. Los, ich schau nach Sternschnuppen für die ersten beiden Wünsche.’
Sie knipste die Schreibtischlampe aus, nun war es im Zimmer fast dunkel. Nur der CD-Player warf ein wenig Licht auf den Schreibtisch, „stand up, get up for your rights“, sang Bob Marley. Und der Wecker leuchtete.
‚Mensch, schon kurz vor zwei. Gut, dass Maa Nachtschicht hat. Da, eine Sternschnuppe, was für eine lange Bahn! Wow, die wird ja größer und größer, rast direkt auf mich zu. Ein Glück, jetzt ist sie doch noch erloschen.’
Plötzlich ein kurzes Zischen, dann machte es ‚Rums’. Mitten hinein in ihre Gedanken. Das Regal mit den Sportpokalen wackelte, polternd fiel einer zu Boden. Anna Mona war zusammengezuckt, hatte den Kopf eingezogen und unter den Armen versteckt, so sehr hatte sie sich erschrocken. Vorsichtig hob sie den Kopf, schaute langsam um sich. Sie tastete nach dem Schalter, im Lichtkegel der Schreibtischlampe fand sie ihr Handy.
‚Was war das denn, etwa ein Erdbeben?’
Nein, nein, das klang eher, als käme etwas angesaust. Und dann der Krach, als ob nebenan ein schwerer Umzugskarton vom Schrank fällt. Sie machte die Musik aus und lauschte. Jetzt war es still und sie spürte, wie die Angst in sie kroch. Es schüttelte sie in den Schultern. Sie hatte nicht den Mut einfach nachzuschauen. Denn Anna Mona war allein zu Haus.
‚Dabei hab ich doch nur am Fenster gesessen und ein bisschen geträumt. Das darf man doch wohl, an einem Abend wie diesem. Warum muss Maa auch gerade heute Nacht arbeiten? Ich ruf sie an!’
Das durfte sie nur im Notfall, denn auf der Arbeit hatte ihre Mutter alle Hände voll zu tun, betreute als Disponentin einer großen Spedition LKW in ganz Europa.
‚So ein Mist, nur die Mailbox’, sie steckte das Telefon in die Hosentasche. Noch nachmittags hatte sie Maa entgegen gerufen, „ich bin 14 und weiß, was ich will und was ich tue!“
Doch da hatten sie darüber gestritten, was in den Sommerferien läuft. Anna Mona sollte eine Woche bei der „buckligen Verwandtschaft“ verbringen, wie sie die nannte. Onkel Thaddeus und Tante Sophie mit zwei 15jährigen Jungs. Die Zwillinge hatte sie als schnöselig in Erinnerung, sie besuchten eine Schule für Hochbegabte, weil sie angeblich hyperintelligent waren. Schließlich hatte sie sich mit Maa verständigt, weil die so ernsthaft bat.
„Wegen so etwas sollten wir uns nicht streiten, wir haben ja nur uns.“
Also wird sie in den sauren Apfel beißen. Ihre Gedanken kehrten zurück.
‚Was soll ich bloß machen? Ich geh auf keinen Fall allein da raus. Um in Nachbarhaus zu klingeln, muss ich ebenfalls durch den Flur und da kann ich keinen mitten in der Nacht aus dem Bett holen.’
Sie schlich zum Regal und hob den Pokal auf. Beim Hochkommen spürte sie ihre Knie weich werden und musste sich setzen. Ihr wurde flau im Magen.
‚Mensch, ich hab den ganzen Abend nichts gegessen, alles nur kein Hungerast!’
Sie griff nach der Sporttasche am Boden und kramte. Das Problem kannte sie von Wettkämpfen. Wenn sie sich angestrengt hatte, brauchte sie rasch gute Kohlehydrate, am besten einen Müsliriegel. Zum Glück versteckte sich hinter den Spikes noch ein großes Stück ihrer dunklen Lieblingsschokolade. Sie brauchte mehrere Versuche das Alupapier abzupiddeln. Mit dem ersten Bissen versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. Was war ihr das in die Knochen gefahren!
Im Zimmer schien alles in Ordnung, kein Putz war von der Decke gerieselt. Über dem Bett hing das Poster mit Bob Marley: ‚Jeder hat das Recht, sein eigenes Schicksal zu bestimmen.’ Am Kleiderschrank stand die Tür auf, da war nichts herausgefallen. In der Zimmerecke die Gitarre, daneben klebte der Rucksack mit den Schulbüchern für die nächsten Wochen am Boden. Die Urkunden vom Sport hingen noch an der Wand und der Laptop lag auf dem Schreibtisch. Nur die Klamotten auf dem Bett hatte sie noch nicht weggeräumt.
‚Ich kann doch nicht schlafen gehen, ohne zu wissen was da passiert ist?’
Beim Gedanken, dass mitten in der Nacht etwas im Haus explodierte oder jemand neben ihrem Bett auftauchte, wurde ihr ganz schummrig. Sie bekam einen trockenen Hals, wollte aus der Küche etwas zu trinken holen, aber sie traute sich nicht. Nicht jetzt. Im Nachdenken griff sie in die Hosentasche und legte das Handy auf den Schreibtisch neben das Zeugnis. Das war mittelprächtig ausgefallen, oder wie ihre Klassenlehrerin Frau Moritz, die schöne Frau Moritz, meinte, „es ist ein Abbild des realen Lebens, es birgt Licht und Schatten.“
Das stimmt schon, denn alles was mit Mathe und Physik zu tun hat, muss sie nicht wirklich haben, sie mag Sozialkunde, Kunst, Deutsch und Sprachen. Und natürlich Sport.
‚Mensch, ich muss mich konzentrieren. Denk nach, denk nach, was kann das wohl gewesen sein? Wie ein Einschlag klang es nicht, aber es hat richtig geplauzt. Vielleicht ist nur ein Regal zusammengekracht?’, versuchte sie sich zu beruhigen.
’Soll ich aus dem Fenster klettern und zur Tür wieder hereinkommen? Das bringt doch auch nichts. So ein Mist, warum ist Maa jetzt nicht hier, die wüsste was zu tun ist. Jetzt weiß ich was ich mache, ich ruf Susi an!’
Die ist ihre allerbeste Freundin. Mit 15 geht sie schon fest mit einem Jungen und hält Anna Mona für eine flache Bohnenstange. Kein Wunder, denn sie ist fast einen Kopf kleiner und etwas drall. Als Anna Mona ihr gestand, sie fände ihre Nase zu breit und hätte auch gern eine Brille, lachte die sie aus.
„Du mit deinem Stupsnäschen, als wäre das ein großer Zinken. Eine Brille betont deine Nase doch nur und stört beim Knutschen. Sei du mal froh über deine Kontaktlinsen.“
Wieder meldete sich nur eine Mailbox. Die half ihr nicht wirklich und eine SMS auch nicht.
‚Ich kann die Polizei anrufen! Aber was soll ich denen denn sagen? Bei uns hat es gerumst, ich habe Schiss nachzuschauen und mich in meinem Zimmer eingeschlossen? Das geht gar nicht. Oder doch?’
Sie ging zur Zimmertür und schloss ab.
‚Sieht ja keiner’, dachte sie.
Sie begann im Zimmer auf und ab zu gehen, dabei fiel ihr Blick in den Spiegel. Die graue Schlabberhose trug sie gern und das big shirt hatte sie ihrer Mutter abgequatscht, wegen der lang ausgestreckten Zunge darauf. Angeblich von einer Rockband aus Maas Jugend, deren Leadsänger heute wahrscheinlich im Rentenalter war und Probleme hatte, nicht tattrig von der Bühne zu fallen. Die dunklen Rastalocken, rund um das hellbraune Gesicht, hatte sie von ihrem Vater. An den konnte sie sich nicht erinnern, denn der ist, wie ihre Mutter sagte, „schon früh vom Pferd gefallen“. Die ersten Jahre hatte sie keine Ahnung, was das heißen sollte, doch dann wurde Maa so lange gelöchert, bis sie die Geschichte erzählte.
Er war eine Diskobekanntschaft gewesen, Anna Mona war das Kind spontaner Liebe mit einem Westafrikaner. Über den Zaun eines herbstlichen Schrebergartens waren sie des Nachts gestiegen. Das hätte sie Maa nicht zugetraut! Die war reichlich verlegen gewesen, nachdem sie das erzählt hatte. Am liebsten wäre sie mit ihrem Geheimnis wohl wieder zurück gerudert. Anna Mona hatte ihr aus der Patsche geholfen.
„Allemal besser als unser Kleiner braucht ein Schwesterchen, oder von wegen dem Kindergeld.“
Sie musste lachen, ihre Mutter grinste.
„Du meinst genauso gut wie, wir haben immer schon ein Kind gewollt?“
„Bestimmt!“
Maa hatte sie in den Arm genommen, und Anna Mona hatte sich sehr erwachsen gefühlt. Sie war stolz, weil ihre Mutter ihr das erzählte hatte wie einer Freundin. Dem Schrebergarten verdankte sie auch ihren Namen.
„Zwischen lauter Anemonen“, hatte Maa gesagt. „Ich war nämlich erstaunt, wie lange die blühen.“
So war der Vorname entstanden für die Kleine mit dem Sternzeichen Zwilling.
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