Am Fuß der Treppe blieb Johanna stehen, weil sie am Kamin einen Mann im Smoking erblickt hatte. Er saß in dem Sessel, in dem sie vor Stunden ihren Tee eingenommen hatte und schaute in die lodernden Flammen, ein halb gefülltes Glas in der Hand. Johanna blieb einen kleinen Moment stehen und betrachtete die Szene, die auf eine rätselhafte Weise traurig - oder besser- melancholisch wirkte. George räusperte sich und sagte dann sehr förmlich:
„Sir Norman, ich melde Ihnen Miss Joan Oldenburg. Miss Oldenburg, dies ist Sir Norman Brandwell, Viscount Sommershell.“ Der Angesprochene erhob sich höflich aus dem Sessel. Das also war der Erbe von Brandwell Manor, der Neffe des alten Majors. Johanna schaute ihn neugierig an und erkannte den Mann von dem Foto in Christinas Zimmer, der dort mit der blonden Frau abgelichtet war. In Wirklichkeit schien er noch attraktiver als auf dem Bild, groß, schlank und mit grauen Augen in einem markanten, gebräunten Gesicht. Er musterte sie nachdenklich und begrüßte sie dann mit - wie sie fand - sehr zurückhaltender Höflichkeit und, ohne ihr die Hand zu geben, in fast akzentfreiem Deutsch:
„Herzlich willkommen auf Brandwell Manor, Miss Oldenburg, darf ich Ihnen ebenfalls einen trockenen Sherry reichen?“
Johanna, die in der Lage war, ebenso kühl zu wirken, reagierte mit einem knappen Nicken und den Worten: „Danke, Sir Norman, ich weiß Ihre Höflichkeit und Ihre Herzlichkeit zu schätzen.”
Normann schaute sie verblüfft an. Dann lächelte er.
„Sie sind sehr offen, Miss Oldenburg, wie Ihre Großmutter, die nahm auch nie ein Blatt vor den Mund. Sie sehen ihr übrigens überaus ähnlich, ich nehme an, das hat man Ihnen schon öfter gesagt, oder?”
Johanna schaute ihn skeptisch an.
„Woher soll ich wissen, wie meine Großmutter ausgesehen hat, ich habe gestern zum ersten Mal von ihrer Existenz gehört. Bislang hat man mir Christina Brandwell verschwiegen.”
„Tatsächlich?”, fragte Norman mit einem Unterton in der Stimme, den zu ignorieren Johanna entschlossen war.
Sie schaute einige Minuten schweigend und etwas unbehaglich in die Flammen, bis Norman wieder das Wort ergriff:
„George wird uns gleich in den Dining-Room bitten, doch vorher sollten Sie einmal das Gemälde betrachten, das über dem ersten Treppenabsatz hier auf der linken Seite hängt. Ich bin sicher, Sie haben es noch nicht gesehen”, sagte er und Johanna drehte sich um. Zögernd und inzwischen etwas misstrauisch folgte sie ihm auf die andere Seite des Raumes. Beim Anblick des großen Ölbildes mit dem Porträt einer jungen Frau hielt sie inne. Fasziniert und wortlos schaute sie es an und fühlte sich einen Moment lang, als sähe sie in den Spiegel einer längst vergangenen Zeit und erblickte niemanden anderen als sich selbst. Johanna Oldenburg, eine junge, blonde Frau in einem langen, weißen Kleid mit einem Bukett wilder Rosen im Arm, zu ihren Füßen ein kleiner Hund, der an einem Zweig knabberte. Wie in Trance ging sie auf das Porträt zu, stellte unkonzentriert ihr Glas ab und merkte nicht, wie es umfiel und der Sherry auf den Teppich tropfte. Sie lehnte sich vor dem Bild an das Treppengeländer, die Augen unverwandt auf das Gesicht der Frau gerichtet. Tausend Gedanken gingen ihr gleichzeitig durch den Kopf und machten sie schwindelig.
„Christina“, murmelte sie schließlich, „warum siehst du so melancholisch aus.” Dann drehte sie sich um und schaute Norman an, der ihr gefolgt war und das tropfende Sherryglas in der Hand hielt. „Ich hatte mir vorgestellt, sie wäre in England glücklich geworden, sonst hatte das doch alles gar keinen Sinn, oder?”
Norman, der sie die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatte, erwiderte: „Sie wissen möglicherweise nicht viel von dem Leben Ihrer Großmutter, Miss Oldenburg, aber ich bin sicher, das wird sich hier ändern. Vieles ist anders, als es scheint und manches, das so offensichtlich aussieht, entpuppt sich plötzlich als ganz neue Geschichte.”
Sie wurden durch das Räuspern von George unterbrochen, der sie zum Dinner bat. Norman fasste Johanna leicht am Ellenbogen und sie folgten George durch eine der beiden Türen an der Rückseite der Halle. Unmittelbar hinter der äußeren lag die innere Halle, ein verhältnismäßig kleiner Raum, der insbesondere als Ausgangspunkt für etliche weitere Türen zu dienen schien. Außerdem führte von dieser Halle eine weitere Treppe nach oben. Auf Johannas Nachfrage erklärte Norman, dass dies die innere Treppe sei, die ebenfalls in die oberen Etagen führte und gewährleistete, dass man ungesehen von eventuellen Besuchern, die sich in der äußeren Halle aufhielten, nach oben gelangen konnte. „Wieviele Zimmer gibt es denn in Brandwell Manor?”
„Genau weiß ich es nicht, ich glaube so etwa sechzig“, erwiderte Norman und schaute George hilfesuchend an.
„Im Haupthaus zweiundsiebzig Räume inklusive Küchentrakt, die Personalwohnungen über den Stallungen kämen dann noch hinzu, Sir.“
„Danke George, ich denke, wir können jetzt essen.“
George öffnete die Flügeltür, die in den Dining-Room führte und Johanna sog scharf die Luft ein. Der Raum war wie eine Komposition. Eine Nussbaumtäfelung gab ihm eine warme Atmosphäre, Kerzen in alten Lüstern spiegelten sich in dem blankpolierten Holz und einige ausgesuchte alte Ölbilder in barocken Rahmen lockerten die Strenge der Wandtäfelung auf. In der Mitte war eine große Tafel gedeckt, kleine Lämpchen darauf gaben ein intimes Licht. Am Kopfende stand eine Anrichte, auf der sich eine erhebliche Anzahl von silbernen Töpfen, Schüsseln und Tiegeln befand, warmgehalten auf Rechauds.
„Wieviele Leute kommen denn zum Essen?“, fragte Johanna verwirrt.
„Heute essen wir nur zu zweit, aber für George und seine Frau ist es ein Festessen, weil Sie hier sind, und es ist für die beiden fast wieder so wie früher, als Christina noch lebte.“
Er zog einen der gepolsterten Stühle zurück und ließ Johanna Platz nehmen.
George servierte einen trockenen, italienischen Weißwein und eine Pilzsuppe. Anschließend gab es einen Fischteller, gefolgt von einem Sorbet aus Gurken und dem Hauptgang, zartem Lammfleisch mit einem undefinierbaren gebäckartigen Ding, das sich als Yorkshirepudding entpuppte.
„Yorkshirepudding habe ich mir immer ganz anders vorgestellt, ich dachte, es wäre irgendwas Wabbeliges mit Rindertalg oder so, aber es schmeckt ja köstlich.“
George schenkte einen samtigen Rotwein ein und freute sich offensichtlich über das Kompliment für seine Frau, die Köchin. Norman erwies sich jetzt als charmanter Plauderer, der mit leichter Hand ein unverbindliches Gespräch führen konnte, dem man die etwas gereizte Stimmung zu Beginn des Abends nicht mehr anmerkte. Als Johanna ihn fragte, wieso er ein derart gutes Deutsch spreche, erzählte er von seinem Sprachunterricht bei Christina, der jeden Tag stattgefunden hatte.
„Wir beide haben sehr viel Deutsch miteinander gesprochen, Christina wollte die Beziehung zu ihrem Heimatland dadurch aufrecht erhalten. Mir hat dieser Wunsch die Möglichkeit eröffnet, die deutschen Klassiker im Original zu lesen. Sagen Sie Miss Oldenburg”, wandte er sich übergangslos einem ernsteren Thema zu. „Sie haben erst gestern von der Existenz Ihrer Großmutter erfahren?”
„Ja“, antwortete Johanna. „Durch den Brief der Rechtsanwälte St. Kendell. Es war der reine Schock, als ich feststellen musste, dass es eine neue Großmutter in meinem Leben gab, die uns bisher verschwiegen wurde. Alles sehr mysteriös.”
Normans Gesichtsaudruck wurde wieder verschlossen, als er nickte und sie ins Raucherzimmer bat, um dort den abschließenden Kaffee zu trinken. Die Distanz zwischen ihnen war wieder fast körperlich zu spüren, und Johanna fragte sich, was wohl der Grund für seine offenkundige Ablehnung war. Normalerweise hätte sie ihn gefragt, heute war sie allerdings zu müde und zu überwältigt von neuen Eindrücken, als dass sie dieser latente Beziehungskonflikt noch ernsthaft interessiert hätte.
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